9.10.2022
12.15Uhr – Ich steige in den Bus nach Chessy, zum Disneyland-Bahnhof. Von dort aus fahre ich nach Paris. Irina und Ellie haben mich zur Bushaltestelle gebracht, nachdem wir bei Carrefour und beim Bäcker waren. Bei Letzterem habe ich mich für den Tag mit Backwaren eingedeckt: Croissant, Pain au Chocolate, Baguette und Brownie. Das schmeckt alles so gut, dass wir bei unserem täglichen Spaziergang immer hier vorbeikommen und mit vollen Tüten den Laden verlassen. Das Baguette esse ich bereits auf dem Weg zur Hälfte auf. Warm und knusprig gibt es kaum etwas Besseres. Beim Bestellen habe ich von Irina gelernt, dass die Franzosen sogar Brownie französisch aussprechen [bʁɔːniː] statt [ˈbrounē]. Als Alessio sich eine GoPro Hero4 [ɡōprō ˈhirō fôr] kaufen wollte, „berichtigte“ ihn der Verkäufer und fragte, ob er die [goːproː ˊeʀo katʀ(ə)] meinen würde. Bekloppt. Ich bin ja auch sehr für die Verwendung unserer Sprache und finde es nervig, wenn Menschen ständig unnötig englische Begriffe verwenden (so wie Tessniem Kadiri im FOMO-Podcast: „to be honest“, „easy“, „solidarity“, „friends“, „real life“, „exhausted“, „the problem is real“, „imagine this“,…), aber wenn ich einen Begriff aus einer anderen Sprache 1‑zu‑1 übernehme oder es sich um einen Namen handelt, dann spreche ich den doch bitte in seiner Ursprungsform aus. Wir würden doch auch nicht auf die Idee kommen, statt iPad [ˈa͜ipæd] iPad [iːpat] zu sagen. Gerade fällt mir noch ein Beispiel ein, von dem mir Irina erzählt hat: Die Sängerin Mariah Carey wird von vielen Franzosen Maria Karé [maˈriːa kaˈreː] ausgesprochen. Man man man. Ich hab übrigens seit dem Studium nicht mehr transkribiert. Kann also sein, dass meine Darstellungen hier voller Fehler sind.
17.47Uhr – Ich sitze in den Tuilerien vor dem Louvre. Erst nachdem ich den Park schon zu ⅔ durchquert hatte, fand ich einen freien Platz auf einer Bank. Die Sonne lässt die herbstlichen Blätter leuchten und ruft die Menschen aus ihren Häusern. Ganz Paris scheint auf den Beinen zu sein. Ich bin erst nach 13 Uhr an der Station Châtelet – Les Halles angekommen.
Während der Fahrt ging es mir überhaupt nicht gut. Im Bus saß ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, direkt am Knick der Ziehharmonika (es war so ein Gelenkbus). Die Frau in meinem Nacken roch stark nach Suppenkraut, der Bus nach Öl. Bei jeder Kurve quietschte es übertrieben laut und ich hoffte, dass die 20-minütige Fahrt bald vorbei sein würde. Mir wurde richtig übel und schwindelig. Fast glaubte ich, die Strecke bis nach Paris nicht ohne Kreislaufzusammenbruch überstehen zu können. Was würde passieren, wenn ich einfach umkippte? Es wäre ja niemand da, der wüsste, wer ich bin. Diese Überlegung ließ mich kurz etwas ängstlich werden, doch dann hielt der Bus endlich in Chessy. Zum Glück wusste ich noch, wo sich die Fahrkartenautomaten befinden, denn sie waren wirklich schlecht ausgeschildert. Ich kaufte für 17,80€ ein Mobiles-Ticket, mit dem man den ganzen Tag in allen 5 Zonen unterwegs sein kann. Tatsächlich nutzte ich es aber nur für die Hin-und Rückfahrt. Als ich am Gleis ankam, stand der Zug zum Einsteigen bereit. Diesmal achtete ich darauf, in Fahrtrichtung zu sitzen, nahm eine Paracetamol 1000 und einige Schlucke aus meiner Wasserflasche. Dann steckte ich mir meine AirPods in die Ohren und hörte Harry Potter.
In der Stadt angekommen, ging ich nach Osten durch die Gassen Richtung Centre Pompidou. Die Sonne schien und ich genoss die frische Luft. Als ich vor dem riesigen Gebäude ankam, setzte ich mich erstmal auf den Boden des großen Platzes und holte meinen Brownie heraus. Während ich ihn genüsslich verspeiste, telefonierte ich mit Jan, der mir erzählte, dass er gerade gewählt habe. Die Landtagswahl fand wiedermal bei uns zu Hause statt (in der Mensa). Da ich eh nicht wusste, wen ich wählen sollte, fand ich es nicht so schlimm, dieses Jahr nicht an der Wahl teilnehmen zu können. Normalerweise komme ich meiner Bürgerpflicht natürlich gerne nach und ich wäre auch dieses Jahr wählen gegangen, allein, um der AfD eine weitere Stimme entgegenzusetzen, aber manchmal muss man Prioritäten setzen.
Monumente überdenken
Nachdem wir aufgelegt hatten und sich mein Brownie in meinem Magen befand, ging ich hinüber zu den Eingängen. Dank meines Behindertenausweises musste ich weder anstehen, noch bezahlen. Nach der Sicherheitskontrolle verstaute ich meinen Rucksack in einem der kostenlosen Schließfächer und ging zunächst in die Ausstellung der Künstler, die für den diesjährigen Marcel Duchamps Preis nominiert sind. Ich setzte mich in den Raum einer Video-Performance des Kolumbianers Iván Argote. In drei Teilen beschäftigt sich seine Kunst mit der Ausbeutung durch die Kolonialisierung und damit, wie rückblickend mit ihr umgegangen wird. Das heutige Europa scheint sich nicht darum zu kümmern, welche Gräueltaten in seiner Vergangenheit zum jetzigen Wohlstand beigetragen haben. In seiner Videoinstallation thematisiert Argote unter anderem den Diebstahl ägyptischer Monumente während der Kolonialzeit. Durch das Aufstellen gestohlener Basilisken wurde die Machtposition europäischer Herrscher gegenüber den unterdrückten Ländern symbolisiert. Solche Überbleibsel der Geschichte sollten besprochen und überdacht werden. Es ist nicht alles ok, nur weil es „schon immer“ so war und vielleicht auch ganz cool aussieht. Im dritten Teil des Videos wurde eine Skulptur, die an einem öffentlichen Platz in Paris steht, mit einem Kran und augenscheinlichen Arbeitern unter den Blicken der Öffentlichkeit teilweise abgebaut. Es zeigt einen wichtigen französischen Eroberer, der auf einem Podest thront, das von Frauen getragen wird, welche offensichtlich für die unterdrückten Kontinente stehen. Fotos des Abbaus wurden online gestellt und in Zeitungen veröffentlicht. Durch diese mediale Aufmerksamkeit wurden sicherlich viele Menschen erreicht und dazu angeregt, über die Legitimation dieser Statue nachzudenken. Als die Stadt daraufhin jemanden beauftragte, nachzusehen, ob sich die Statue noch an ihrem Platz befindet, sah alles aus wie vorher, da der Kran sie lediglich für die Fotos abgehoben und anschließend wieder auf ihr widerliches Podest gestellt hatte. Der Künstler erschuf durch seine Aktion eine Schlagzeile, die hoffentlich in naher Zukunft Wirklichkeit wird.
Alice Neel
Ein paar Meter weiter betrat ich die Ausstellung von Alice Neel. Mit ihr „ehrt das Centre Pompidou eine der wichtigsten Malerinnen Nord-Amerikas. Klassenkampf und Geschlechterkampf sind die beiden Hauptbestandteile dieser außergewöhnlichen Retrospektive, sie zeugen von Alice Neels starkem politischen und sozialen Engagement.“ (Parisinfo, 2022) Der große Raum war gut besucht und an den Wänden unter den Bildern standen viele interessante Texte über die Abgebildeten. Es war entspannend, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil irgendjemand auf mich wartet. Alleinreisen hat auch seine Vorteile. Das Alter der Besucher/-innen war breit gefächert. Da war eine Gruppe deutscher Studierender, die sich auf so eine nervige tiefsinnige Art über die Kunst unterhielten. Um die nächste Ecke traf man auf ein altes Ehepaar, das sich gebannt ein Video ansah. An der hintersten Wand hing das Bild einer Tänzerin (im schmuddeligen Sinne). Ihre großen Brüste hingen über ihren Ouvert-Body (Hab extra gegoogelt, wie sich sowas nennt. Die Dinger gibt es in der billigsten Version schon für 9,51€ bei Ebay. Für einen ordentlichen Leder-Riemenbody mit Strapshaltern wie auf dem Bild muss man allerdings schon 116,95€ auf den Tisch legen. Ich weiß aber nicht, ob die Tänzerinnen 1982 diese Arbeitskleidung selbst kaufen mussten oder ob sie gestellt wurde), ein Schlitz zwischen den Beinen gab den Blick frei auf ein riesiges Intimpiercing mit großem Glitzeranhänger. Überhaupt war die Tänzerin sehr schmuckbehangen. Den Text neben dem Bild konnte ich zunächst nicht lesen, weil direkt davor ein etwa vierjähriger Junge stand und hochinteressiert Alice Neels Kunst betrachtete. Kurz darauf kam sein Vater und erklärte ihm mit Blick auf das Bild etwas auf französisch, ehe er seinen Sohn weiterschob. Jetzt konnte ich auch die Beschreibung lesen. Bei der Abgebildeten handelte es sich um die US-amerikanisch-jüdische Performance-Künstlerin, Pornodarstellerin, Autorin, Regisseurin, Fernsehmoderatorin und Sexualtherapeutin Annie Sprinkle. Sie wurde im selben Jahr wie meine Mutter geboren und muss beim Malen des Bildes 27/28 Jahre alt gewesen sein. Durch die groben Pinselstriche wirkt sie allerdings eher wie 60. Ich zitiere mal eben von Wikipedia, weil ich das echt interessant finde: „Sprinkle ist eine der bekanntesten Vertreterinnen des Sex-positive Feminism. Sie ist eine Ikone der sexuellen Aufklärung in den USA. Ihr Themenschwerpunkt ist die Demystifizierung des (weiblichen) Körpers. Annie Sprinkle ist der erste amerikanische Pornostar, der erfolgreich eine Dissertation hinterlegt hat, nämlich über die Situation von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern im Fachbereich Human Sexuality am Institute for Advanced Study of Human Sexuality in San Francisco, 1992. Sie verfügt auch über einen Bachelor of Fine Arts in Fotografie. Sie ist seit 2007 mit Elizabeth Stephens verheiratet. Sprinkle bezeichnet ihren sexuellen Status als ökosexuell. […] Nach eigener Aussage hat Annie Sprinkle über 7000 unterschiedliche Arten von Sex erlebt.“ Das alles würde man gar nicht vermuten, wenn man nur mal eben schnell durch die Ausstellung hetzt und beiläufig das Bild anguckt. Andere Bilder zeigen Andy Warhol oben ohne (wodurch sein entstellter Oberkörper zum Vorschein kommt), Gerard Malanga (der auf dem Bild aussieht wie Dr. Frank N. Furter), erschöpfte Mütter, einen Mann, der nur zum Teil ausgemalt wurde, da er nach dem ersten Sitting in den Vietnamkrieg eingezogen wurde und nicht zurückkehrte und viele andere ernste Gesichter. Kaum einer der Abgebildeten lächelt. Das Leben war hart für Alice Neel und für die Menschen, die sie malte. Geboren 1900 versuchte sie, durch ihre Bilder Geschichte zu schreiben, indem sie das zwanzigste Jahrhundert durch die Leute erzählte, die ihr begegneten. Sie beschönigte nichts, sondern zeigt die Dinge so wie sie sind. Dabei scheute sie auch nicht davor, sich selbst nackt als alte, aus der Form geratene Frau zu malen. Ich persönlich finde ihre Bilder nicht schön, aber sie sprechen zu einem. Manche sind auch echt witzig, wie z.B. das von dem Typen mit den vielen Penissen.
Museum
Nachdem ich Alice Neel verlassen hatte, fuhr ich mit der Außenrolltreppe nach oben, wo ich zunächst Fotos von der Aussicht machte. Der Himmel war strahlend blau, die Stadt lag im Sonnenlicht und auch mir ging es inzwischen wieder gut. Ich hatte nicht vor, den ganzen Tag im Centre Pompidou zu verbringen, aber da es mein Lieblingsmuseum in Paris ist, wollte ich zumindest noch einmal durch die Ausstellung in den oberen Etagen schlendern. Viele Bilder und Künstler begegnen einem immer mal wieder in gedruckter oder digitaler Form, aber es ist schon etwas anderes, vor den tatsächlichen Kunstwerken zu stehen und sie in voller Größe und Ruhe zu betrachten.
Zwischenstand Tuilerien
Inzwischen konnte ich auf einen der grünen Stühle wechseln, deren Position sich zwischen normalem Stuhl und Liegestuhl befindet. Von hier aus kann ich auf die Siegessäule auf dem Place de la Concorde blicken, die genauso aussieht wie der ägyptische Obelisk aus dem Video vorhin. Google bestätigt mir, dass es sich bei der Säule um den Obelisk von Luxor handelt. Seltsam, bis heute habe ich mir keine Gedanken über den Begriff „Siegessäule“ gemacht und mich auch nie gefragt, warum einige von ihnen mit Hieroglyphen verziert sind. (In Deutschland gibt es keine ägyptischen Obelisken, aber in Rom und Florenz habe ich bereits einige bestaunt.) 2018 habe ich bei Instagram ein Foto hochgeladen, auf dem ich hier am Bassin octogonal sitze und entspannt auf den Obelisken schaue (man sieht nur meine Schuhe, aber ich weiß, dass ich entspannt dort saß). Ich hab ihn sogar mit dem Hashtag #obelisquedelouxor versehen. Trotzdem habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt fühlt es sich falsch an, ihn hier zu betrachten, obwohl er doch eigentlich in Ägypten stehen sollte. Kunst kann einem echt die Augen öffnen.
Langsam wird es kühl. Die Sonne ist zu dieser Jahreszeit noch so stark, dass ich heute ständig versucht habe, im Schatten zu gehen, um nicht ins Schwitzen zu kommen. Zum Glück hab ich heute Morgen daran gedacht, meine Sonnenbrille mitzunehmen. Aber jetzt, da die Sonne langsam untergeht, merkt man, dass es schon Oktober ist. Ich war bisher schon viermal im Oktober in Paris. Diese Jahreszeit ist perfekt, wenn das Wetter so mitspielt wie die letzten Tage.
Sainte-Chapelle
Nachdem ich noch eine weitere Stunde in der Kunstsammlung des Centre Pompidou verbracht hatte, ging ich Richtung Sainte-Chapelle. Die ist immer einen Besuch wert, da die Fenster einfach wunderschön leuchten, wenn das Licht hindurchscheint. Auch hier musste ich mich nicht in die lange Schlange stellen, sondern durfte direkt zur Sicherheitskontrolle gehen. Dieses Mal war ich allerdings nicht so angetan von der Gesamtsituation. Durch einen engen Gang aus provisorischen Holzwänden, die den gesamten Eingangsbereich und die Außenfassade verdeckten, wurde die Besuchermasse ins Innere der Kapelle geschoben. Hier war es viel zu voll und obwohl die Sonne schien, leuchteten die Fenster nicht wie üblich. Vielleicht war ich aber auch einfach zur falschen Zeit gekommen. Nach 10 Minuten war ich wieder draußen und setzte meinen Spaziergang fort.
Mein Weg führte mich an Notre-Dame vorbei, an der Seine entlang, hin zum Louvre. Die Stände am Fluss präsentierten ihre üblichen Bilder, Poster, Postkarten und sonstigen Souvenirs. Eigentlich finde ich Vieles davon schön und obwohl alles recht günstig ist, habe ich hier noch nie etwas gekauft. Vor allem liegt das wohl daran, dass ich mich nicht entscheiden könnte, welches Bild ich kaufen sollte. Ich hätte gerne die Superkraft, in jeder Situation blitzschnell und ohne darüber nachdenken zu müssen, die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Das wäre echt hilfreich und würde auch unseren gemeinsamen Wocheneinkauf auf ein Fünftel der Zeit reduzieren. (Deshalb geht Jan meistens allein einkaufen. Ich bleib zu oft bereits beim Obst und Gemüse hängen).
Auf den Gehwegen rund um den Louvre verkauften Männer rauchende Esskastanien. Da die Ausstellungsräume bereits um 17.30Uhr schließen, ging ich nicht ins eigentliche Museum, sondern lediglich in den „Vorraum“, wenn man die riesige Halle unter der Pyramide so nennen kann. Ich stöpselte mein Handy an die kostenfreie Ladestation, die nach dem selben Prinzip funktioniert wie die Gepäckfächer und ging auf Klo. Ich finde es in Großstädten immer ganz angenehm, wenn man sich zwischendurch mal an einem ordentlichen Waschbecken (mit Seife) die Hände waschen kann. Dann setzte ich mich auf eine Bank unter der Pyramide und aß mein Pain au Chocolat. Dabei betrachtete ich die riesige Installation aus bunten Bündeln afrikanischer Stoffe, die an das provisorische Gepäck Geflüchteter erinnert und von der Spitze der Glaspyramide hinabführt. Das Kunstwerk des afrikanischen Künstlers Barthélémy Toguo „Säule der vermissten Migranten“ soll dazu anregen, über das Exil nachzudenken. Die Bündel erinnern auf ihre Weise an all die Zwangsvertreibungen von Flüchtlingen aus aller Welt, die unter Lebensgefahr den Weg in eine bewohnbare Welt wagen. Sie sind als Zeichen all der gefährlichen Wege von Männern, Frauen und Kindern, die vor Kriegen, Hungersnöten, Elend und Umweltkatastrophen fliehen zu betrachten. In der gläsernen Pyramide des Louvre schweben die Bündel ohne ihre Besitzer als eine Art Stillleben, das einen unweigerlich an die Menschen denken lässt, die es nicht in ein besseres Leben geschafft haben. „Um einen flexiblen Mast gehängt, bilden sie eine Rettungsleiter, die der Künstler dem Alptraum der Geschichte entgegensetzen will, aus dem er nicht erwachen kann.“ (Louvre)
Rückweg
Mit vielen neuen Eindrücken und Gedanken ging ich die Rue de Rivoli hinunter, zurück in Richtung Châtelet Les Halles (übrigens einer der größten unterirdischen Bahnhöfe der Welt). Als ich durch den Nelson Mandela-Garten auf das große Gebäude zuging, strahlte zu meiner Linken die Pfarrkirche Saint-Eustache im Licht der untergehenden Sonne. Diesmal fuhr ich nur bis zum Bahnhof Val d’Europe, wo mich Alessio mit dem Auto abholte. Er kam ein bisschen später als geplant, da heute Ellies Badetag war und es ihr zum ersten Mal richtig gut gefallen hatte, weshalb sie länger als nötig im Wasser geblieben war. Als wir Zuhause ankamen, strahlte sie uns an und freute sich über alles; vor allem über meine Haare. Ich freute mich ebenfalls, wieder auf dem Sofa gelandet zu sein. Der Tag war schön, aber auch ziemlich anstrengend gewesen. Meine Schultern beschwerten sich mit Schmerzen darüber, dass ich über so lange Zeit einen Rucksack getragen hatte. Als ich mir die Fotos des Tages auf meinem iPad ansah, verglich ich sie mit denen vom letzten Jahr und stutze einen Moment, als ich auf die Daten schaute. Zufälligerweise sind Jan und ich ebenfalls genau am 9.10.2021 in Paris im Centre Pompidou, der Sainte-Chapelle und in den Tuilerien gewesen.
11.10.
19.52Uhr – Ich sitze gerade am Gate F44 auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Als ich vor 1 ½ Stunden ankam, schien noch die Sonne. Alessio hat mich zum Flughafen gebracht. Wir sind gut durch den Verkehr gekommen und brauchten am Ende etwa 40 Minuten. Auf dem Weg sind wir immer wieder an geschlossenen oder komplett überfüllten Tankstellen vorbeigekommen. Es herrscht gerade Benzin-Krise in Frankreich, weil Raffineriearbeiter für Inflationsausgleich streiken. Zum Glück hat Alessio vor ein paar Tagen volltanken können.
An der Sicherheitskontrolle gab es diesmal 0 Minuten Wartezeit. Mein Flug geht erst in einer Stunde, weshalb ich mir irgendwie die Zeit vertreiben muss. Heute Mittag erhielt ich per Messenger eine liebe Nachricht einer ehemaligen Schulkameradin. Sie schrieb, dass sie den heutigen Abenteuer Diagnose Podcast gehört habe und dass es ihr voll Leid tue, dass es mir so lange so schlecht ging. Sie wünschte mir für die Zukunft alles Gute. Ich hab mich gefreut, fühlte mich aber auch irgendwie komisch, da ich selbst den Podcast noch nicht gehört hatte. Als ich letzte Woche bei Irina ankam, musste ich noch eine Sprachnachricht für Volker Präkelt aufnehmen, da am 5.10. die Folge produziert werden sollte. Ich wusste allerdings nicht, ab wann er verfügbar sein würde. Ich hätte die Nachricht auch schon zwei Wochen vorher aufnehmen können, denn an Zeit mangelte es mir nicht. Allerdings litt ich seit über einem Monat an einer hartnäckigen Erkältung, die man mir auch anhörte. Daher wollte ich abwarten, bis ich wieder normal klang, aber daraus wurde irgendwie nichts. Deshalb endete ich schließlich am Morgen der Podcast-Produktion auf einem Bett in Paris sitzend mit einer Decke über dem Kopf (weil die Decken der Wohnung so unglaublich hoch waren, dass es hallte) und redete in mein Smartphone. Qualität: nich so prall. Aber ich hab mir meine Nachricht zur Sicherheit auch nicht nochmal angehört, denn dann hätte ich sie bestimmt nicht abgeschickt. Übrigens habe ich ein richtig gutes Zoom H4n-Aufnahmegerät, ein Stativ, ein Mikrofon und sogar ein aufstellbares Absorber-Panel zuhause. Aber mit diesem ganzen Klimbim hätte es sich bestimmt zu gut angehört.
Naja, ich habe kurz mit mir gerungen, weil ich es immer seltsam finde, mich selbst sprechen zu hören. Aber da das WLAN hier am Flughafen gut funktioniert und ich ja eh nichts zu tun habe, hab ich die ARD-Audiothek aufgerufen und mir die 41-minütige Folge angehört. Zwischendurch musste ich schmunzeln und an ein paar Stellen habe ich auch gestutzt. Jan ist (leider) kein Ingenieur und unsere Hochzeitsreise hat bis heute nicht stattgefunden. Aber ansonsten stimmt es im Großen und Ganzen. Es ist sehr schön zu hören, wie positiv Volker und die andere Dame über mich sprechen. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt und musste ab und zu sogar lachen. Ein wenig befremdlich ist es, immer meinen vollen Namen zu hören. Nele hätte es auch getan
Beim Hören des Podcasts wurde mir gerade wieder bewusst, wie froh ich darüber bin, dass es mir wieder gut geht und die ganze Odyssee ein Ende hat. Ich konnte gerade eine Woche in Paris mit Irina, Alessio und ihrer zuckersüßen drei Monate alten Tochter Ellie verbringen. Ich war im Disneyland und konnte nochmal den Herbst in dieser schönen Stadt genießen. Das Wetter hat komplett mitgespielt und mir durchgehend herrlichen Sonnenschein beschert. Wenn ich gleich nach Hause fliege, werde ich am Flughafen von meinem geliebten Ehemann abgeholt. Mir geht es gut. Ich hab noch mal Glück gehabt. Mein tiefes Mitgefühl gilt allen, denen es auch schlecht geht und die vergeblich auf eine Diagnose hoffen.
20.51Uhr – Neben mir beschwert sich ein Deutscher, weil sein Handgepäck nicht in das Gepäckfach passt. Es entspricht aber absolut nicht den erlaubten Maßen. Es ist also nicht die Schuld der Crew oder des Flugzeugs. Es ist hoch wie breit. Die Breite ist die eines normalen Handgepäckkoffers. Von der Größe hat er zwei Stücke. Er hat Glück, dass der Flieger nicht voll belegt ist und er seinen Koffer jetzt neben sich auf dem Sitz anschnallen kann. Die Crew von Air France ist sehr nett und sagt ihm, dass er auch die Reihe wechseln kann, um am Fenster zu sitzen. In meiner Reihe sitze ich nun allein (also auf der gegenüberliegenden Sitzreihe sitzen jetzt zwei Koffer). Die vier Reihen hinter mir sind komplett leer. Das Geld für die Sitzplatzbuchung hätte ich mir sparen können.
Das Flugzeug sieht aus wie aus dem Ei gepellt (seltsame Formulierung). Hier gibt es WLAN und ich kann mein Handy per USB‑C aufladen. Alles ist sauber und neu. Sogar mein Gurt ist schön! Sanft rollen wir auf die Startposition.
Mein rechtes Augenlid zuckt. Das Flugzeug macht laute, quietschende Geräusche. Wir starten gleich. Im Abstand von zwei Metern machen zwei männliche Crew-Mitglieder ganz vorne ihre Sicherheitsshow. Von hier hinten (28A) kann ich nichts sehen.
Wir sind gerade durch die Wolkendecke gebrochen. Paris leuchtet bunt. Eben sind wir eine Kurve geflogen und ich hab mich kurz erschrocken, weil der Boden so nah schien und plötzlich ein Gepäckfach aufging. In diesem neumodischen Flugzeug gibt es sogar eine richtig gute Halterung für Tablets und Smartphones. Ich habe mein iPad in Position gebracht und gucke bei Netflix die True-Crime-Doku „Das Mädchen auf dem Bild“. Allerdings weiß ich jetzt schon, dass ich sie hier nicht zu Ende gucken werde, weil der Flug kürzer ist als die Doku. Aus Umwelt-Sicht wäre es natürlich besser gewesen, mit der Bahn zu fahren, aber dann hätte ich mehr als das Doppelte gezahlt und wäre vermutlich vier Tage unterwegs gewesen. Wie anfällig das deutsche Bahnnetz ist, hat ja kürzlich der Anschlag in Norddeutschland gezeigt. Gäbe es eine Direktverbindung von Hamburg nach Paris, hätte ich es mir vielleicht überlegt, aber für eine längere Strecken mit Umsteigen reichen meine Kräfte noch nicht aus.
22.12Uhr – Landeanflug Hamburg
Der Vollmond leuchtet. Sein Licht wird vom linken Flügel reflektiert. Direkt unter uns ist alles schwarz, aber man sieht in einiger Entfernung die Stadt funkeln.
22.17Uhr – Wir sind gelandet. Obwohl das Flugzeug so schön ist (sogar das Klo ist schön) ist es irre laut. Da müsst ihr nochmal ran, AirFrance!
22.25Uhr – Der Gang steht voll, aber die Tür wurde noch nicht geöffnet. Jan schreibt, dass er auch schon da ist. Ich freue mich!
Beim Aussteigen (ich bin die Vorletzte) bemerke ich ein DELL-Notebook in einer Sitztasche und sage der Crew Bescheid. Wie nervig das für den Besitzer sein muss! Hoffentlich hat er das Fehlen noch vor Verlassen des Flughafens festgestellt.
12.10.2022 – Zuhause ist es doch am schönsten. Ich liege mit meiner Decke auf unserem Sofa, höre entspannte Musik und tippe diesen Text, während Jan sich in der Küche etwas zu Essen macht. Er ist eben vom Proben zurückgekommen. Als ich gestern am Flughafen ins Auto stieg, lag bereits eine Packung Pfefferbeißer als Snack für mich bereit. In der Mittelkonsole stand eine Flasche Mischmasch. Es sind diese kleinen Aufmerksamkeiten, die mich immer wieder glücklich machen. Jan ist darin so viel besser als ich, aber Dank ihm werde auch ich stetig besser darin, anderen Menschen durch kleine Gesten zu zeigen, dass ich sie mag.
13.10.2022 – Wenn man das letzte Bild anschaut, sieht man, dass ich diesmal ziemlich lange gebraucht habe, um hier den ganzen Text und die Bilder einzufügen. Es ist kurz vor 3 und ich gehe dann jetzt auch mal ins Bett. Gute Nacht 🙂