Es ist der letzte Tag des Jahres 2021; Die Uhr zeigt 10:12Uhr. Ich liege mit leichten Kopfschmerzen und einem leckeren Latte Macchiato in meinem Bett. Eben habe ich mich heftig an meiner Cotrim Forte-Tablette verschluckt. Das wär’s noch: Stammzelltransplantation gut überstanden und dann an der Medizin erstickt. Jan schreibt gerade eine Einkaufsliste für heute Abend. Wir feiern zu fünft bei meinem Bruder mit Raclette, Spielen, Alkohol und (hoffentlich) Karaoke. Eigentlich hatten Luise und ich geplant, Silvester in unserem schönen Kunstraum zu feiern, aber als wir dort gestern Keramik bemalt haben, sind uns fast die Finger abgefallen, weil die Heizung nicht richtig ansprang und es deshalb im Raum viel kälter war als draußen. So durchgefroren war ich ewig nicht mehr. Nachdem ich sehr lange heiß geduscht hatte, war ich körperlich völlig erledigt. Jedenfalls verlegten wir unseren Silvesterplan daher in das Haus meines Bruders.
Omas Geschichte
Es ist echt schwach von mir, dass ich mal wieder so lange nichts hochgeladen habe. Man könnte fast meinen, ich wäre schreibfaul gewesen, aber das wäre nur teilweise richtig. Tatsächlich habe ich in den Wochen vor Weihnachten nämlich so viel geschrieben, dass meine Nächte ziemlich kurz waren und meine rechte Hand knapp vor einer Sehnenscheidenentzündung stand. Zu Weihnachten wollte ich meiner Mutter das alte Tagebuch meiner Oma abtippen. Sie schrieb es 1943/44 als sie 14/15 Jahre alt war. Die Geschichte ist süß, spannend und tragisch. Vor allem ist sie aber so gut geschrieben, dass man sich gefühlsmäßig sehr gut in die damalige Situation hineinversetzen kann. Während Jan längst im Bett lag und schlief, habe ich mit meiner jugendlichen Oma gehofft, gelitten und mich gefreut. Bei allem spielt der Krieg nur eine Nebenrolle. Eigentlich geht es nur um Eines: Robert. Das Gefühlschaos und der Herzschmerz lassen sich wahrscheinlich auf jedes 14-jährige Mädchen zu jeder Zeit übertragen. Teilweise war ich so wütend oder emotional aufgewühlt, dass ich gar nicht richtig schlafen konnte. Ich habe das Tagebuch während des Abtippens zum ersten Mal gelesen. Es war deshalb fast so, als würde ich es selbst schreiben. Gleichzeitig las ich als eine Art allwissender Erzähler mit Hintergrundwissen, welches die junge Beke damals noch nicht hatte. Sie wusste nichts von den Gräueltaten, die sich im Namen des „Deutschen Vaterlandes“ zeitgleich abspielten. Sie ahnte auch nicht, dass ihr Bruder seine Eindrücke aus dem Krieg niemals würde verarbeiten können, dass ihr Vater in der russischen Kriegsgefangenschaft sterben und dass ihre große Herzensliebe Robert nur drei Jahre später bei einem tragischen Arbeitsunfall ums Leben kommen würde.
Meine Oma beschrieb sehr gut, wann und wo etwas geschah, inklusive Straßennamen. Leider (naja, eigentlich zum Glück) haben sich die Namen der Plätze und Straßen nach dem Krieg geändert. Niemand hätte weiterhin am Schlageterplatz oder in der Adolf-Hitler-Straße wohnen wollen. Damit ich die langen Spaziergänge von Robert und Beke dennoch nachvollziehen konnte, ließ ich mir vom Stadtarchiv Stade einen Stadtplan von 1938 schicken (Sie hatten nur 1938 oder 1946). Außerdem besaß ich noch einige alte Fotos, die ich dem Dokument hinzufügte. Am Ende hatte ich eine riesige Datei von über 300 DinA5-Seiten, die ich doppelseitig im Broschürenformat mit wechselnden Seitenrändern (innen breiter als außen) ausdruckte, zurechtschnitt und mithilfe von Buchschrauben und einem selbsterstellten Einband (mit Buchbinderpappe, Gewebeband und so) zu einem Buch, bzw. zu zwei Büchern zusammenfügte. Natürlich klappte nicht alles einwandfrei und es war ein Kampf, dem Drucker meinen Willen aufzuzwingen. Am Ende war ich mit dem Ergebnis soweit zufrieden, dass ich es verschenken konnte. Allerdings muss ich den Schluss nochmal überarbeiten, weil dort beim Druck die Seitenränder verrutscht sind. Wie auch immer sowas passieren kann!? Aber zum Glück lassen sich Dank der Buchbindeschrauben einzelne Seiten ganz einfach austauschen.
Weihnachten
Weihnachten war sehr entspannt. Vor allem, wenn man bedenkt, mit welchen Gefühlen wir alle voriges Jahr unter dem Tannenbaum saßen. Niemand wusste, was die nächsten Monate bringen würden und die Angst vor einem negativen Ende „meiner Geschichte“ schwebte über meiner Familie wie ein Damoklesschwert. Dieses Jahr war daher alles besser.
Am 24. statteten wir zunächst meiner Cousine Nadja einen Besuch zum Geburtstagsbrunch ab. Aufgrund von Corona waren wir weniger Personen als normalerweise. Mein Cousin brachte seine Freundin mit, die wir zum ersten Mal sahen. Sie war auf Anhieb total sympathisch (ich hatte auch nichts anderes erwartet). Außerdem waren noch meine Mutter und meine Tante (wir treffen uns immer in ihrem Haus, dem Elternhaus meines Vaters) anwesend. Zuletzt hatte ich meine Cousine vor einem Jahr gesehen, was ziemlich schade ist. Nadja, warum sehen wir uns so selten??? Hamburg und Winsen sind ja nun wirklich nicht weit voneinander entfernt!
Im Anschluss fuhren wir in Meckelfeld noch schnell bei Rewe ran, um eine halbe Stunde vor Ladenschluss zwei Getränkekisten mit Fritz-Limonade, Cola, Mischmasch und Vita Malz zu ergattern. Normalerweise trinken wir zurzeit eigentlich nur Leitungswasser, weil es einfach richtig gut schmeckt, immer vorhanden, immer kühl und obendrein noch zuckerfrei ist. Außerdem produziert man weder Pfand noch Müll. Habt ihr eigentlich mitbekommen, dass jetzt auf alle Getränkeflaschen Pfand erhoben wird? Edeka macht das schon seit über einem Monat. Nachdem ich zufällig einen diesbezüglichen Aushang an der Kasse gelesen hatte, musste ich zuhause erstmal meine Mangosaft-Flaschen aus dem gelben Sack holen, weil ich sie routiniert weggeworfen hatte, ohne darauf zu achten, dass da inzwischen ein Pfandsymbol drauf ist.
Zuhause angekommen, guckten Jan und ich wie jedes Jahr die Muppets Weihnachtsgeschichte.
Pflegeheime
In der Vor-Coronazeit bin ich an Heiligabend mit meiner Mutter und zwei Mädchen vom JRK (meistens Natalia und Annalena) zwanzig Jahre lang gegen 14 Uhr zum Pflegeheim gefahren und hab‘ alten Menschen Weihnachtslieder vorgesungen. Wir sind vor allem in die Zimmer gegangen, in denen die Leute lagen, die nicht mehr an der großen Weihnachtsfeier im Speisesaal teilnehmen konnten oder wollten. Verkleidet als Weihnachtsmann oder Engel ließen wir uns vom Personal zeigen, wo wir am besten hingehen sollten. Als Geschenk brachten wir Fensterbilder oder Mobiles mit, die wir vorher mit unserer Jugendrotkreuzgruppe gebastelt hatten. In einigen Zimmern hingen bereits mehrere unserer Basteleien aus den Vorjahren – oft die einzige Weihnachtsdekoration im Raum. Die freudigen Gesichter der Menschen, das Aufflackern alter Erinnerungen beim Hören der altbekannten Weihnachtslieder, die Tränen der Rührung, weil jemand an sie denkt, das begeisterte Mitsingen und die aus all dem sprechende Dankbarkeit waren für mich immer ein Highlight des Heiligabends. Vorletztes Jahr war ich zuletzt mit meinen beiden Schülerinnen Ala und Souheyla im Pflegeheim. Als Engelchen sahen sie so süß aus! Zudem sangen sie sehr schön, laut und textsicher. Man konnte ihnen ansehen, wie nahe ihnen das Schicksal der alten Bewohner ging. Manchmal wünschten sie „Guten Besserung“ oder sagten: „Hoffentlich können Sie bald wieder nach Hause!“ Als ich den Mädchen daraufhin erklärte, dass dieses Pflegeheim für die meisten der hier lebenden Personen nun ihr Zuhause sei und der Großteil der Bewohner auch hier sterben würde, stand ihnen noch mehr Mitleid ins Gesicht geschrieben. Wenn man in so einem kleinen muffigen Raum steht, der nach Salbe, Pipi und Tod riecht, schaut man sich oft die Fotos an den Wänden und auf den Schränken an. Besonders gut erinnere ich mich an das Zimmer eines alten Mannes, dessen Bilder die ganze Wand bedeckten und von einem aufregenden Leben mit vielen Reisen und Freunden zeugte. Nun saß dieser ehemals groß-gewachsene, starke Mann zusammengesunken und bucklig im Halbdunkel an einem kahlen Tisch, vor sich ein Stück Butterkuchen. Als ob das nicht schon traurig genug gewesen wäre, fing er bitterlich an zu weinen, als Annalena ihm ein gebasteltes Schaf aus Tonpapier und Watte schenkte. „Das ist für mich?!“ Er ergriff es sichtlich gerührt mit zitternden Händen und stellte es behutsam vor sich auf den Tisch. „Aber ich hab ja gar nichts für euch!“, diesen Satz hörte man sehr häufig. Die Menschen sind es nicht mehr gewohnt, dass man Dinge ohne Gegenleistung tut, einfach nur, um anderen eine Freude zu machen. Da die Pandemie auch in diesem Jahr einen Besuch im Pflegeheim verhindert hat, kamen die gebastelten Weihnachtsgrüße (Mobiles mit Schneemännern und Sternen) diesmal in Umschläge, welche wir dann der Pflegeleitung übergaben, mit der Bitte, sie an die Bewohner zu verteilen. Es ist irgendwie ziemlich traurig, wie selbstverständlich alte Menschen in unserer Gesellschaft in Pflegeheime „abgeschoben“ werden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es meist nicht anders geht, da es den Angehörigen an Zeit, Räumlichkeiten und Fähigkeiten mangelt. Hier in Deutschland lebt die Familie oft weit verstreut in Wohnungen und Häusern ohne Fahrstuhl, alle arbeiten. Da ist es nicht möglich, die pflegebedürftige Oma mal eben zu sich nach Hause zu holen. Alleine lassen kann man sie aber irgendwann auch nicht mehr, spätestens dann nicht, wenn sie anfängt zu kochen und mittendrin im Sessel einschläft, während das Essen auf dem Herd Feuer fängt.
Wenn mein Opa damals gestürzt ist, haben wir es mit Mühe und Not geschafft, ihn zu zweit wieder in den Rollstuhl zu setzen. Hätte er allein gelebt, wäre er wahrscheinlich auf dem Boden liegend verdurstet, weil niemand ihn gefunden hätte. Für ihn war der eigene Verfall kaum zu ertragen gewesen. Wie demütigend muss es sein, nicht mehr selbstständig auf die Toilette gehen zu können? Ich erinnere mich noch daran, wie er bis zur letzten Minute um seine Kraft gekämpft hat und wie er samt seiner Krücke die steile Leiter zum Spitzdachboden emporgestiegen ist, um in zwölf Metern Höhe den Schornstein zu reparieren. Als am Ende gar nichts mehr ging, saßen wir uns auf seinem Bett gegenüber, in den Händen knollige Bierflaschen, und redeten. „Ach Nele, ich hab keine Lust mehr. Es reicht mir! Ich hatte ein schönes Leben. Die letzten zwei Jahre hätten nicht sein müssen.“ Einige Monate später starb er. Zu seinem Glück verbrachte er nur wenige Tage unter starken Schmerzmitteln im Pflegeheim, bevor er ins Hospiz verlegt wurde, wo er kurz darauf von uns ging. Ich glaube nicht, dass er von dieser letzten Zeit viel mitbekommen hat. Als meine Oma dann allein in ihrem großen Haus lebte, boten Jan und ich ihr an, bei ihr einzuziehen. Die beiden oberen Stockwerke wurden eh seit Ewigkeiten nur noch für unsere Partys und als Lagerraum genutzt. Aber sie lehnte ab. Als sie einige Jahre später pflegebedürftig wurde, fuhr meine Mutter täglich nach der Arbeit bei ihr vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Zudem zierte fortan ein Armband des Hausnotrufs das Handgelenk meiner Oma. Wäre sie damit einverstanden gewesen, eine private Pflegekraft bei sich einziehen zu lassen, hätte sie noch länger in ihrem Haus wohnen bleiben können. Da sie aber auch das nicht wollte, blieb schließlich nur noch das Pflegeheim. Ich weiß, dass meine Mutter sich bis heute Vorwürfe macht, weil meine Oma ihre letzten Jahre nicht zu Hause verbringen konnte. Dabei waren es letzten Endes allein die Entscheidungen meiner Oma selbst, die ihr Schicksal besiegelt haben. Jeden Tag fuhr meine Mutter ins chronisch unterbesetzte und völlig überteuerte Pflegeheim, um die Aufgaben zu erledigen, die ansonsten auf der Strecke blieben. Die Zustände in dieser Einrichtung waren teilweise wirklich erschreckend und nur schwer in Worte zu fassen. Man hatte oft das Gefühl, die Bewohner würden mit Medikamenten ruhig gestellt. Um 17 Uhr gab es bereits Abendbrot, um 18 Uhr hatten alle im Bett zu sein und zu schlafen, auch wenn es draußen noch bis 22 Uhr hell war. Als der Fahrstuhl kaputt war, dauerte es geschlagene sieben Wochen, bis die gehbehinderten Bewohner vom 1. bis zum 4. Stock wieder nach draußen konnten. (Allerdings holte sie eh selten jemand zu einem Rollstuhl-Spaziergang ab.) Die meisten Pflegekräfte waren liebevoll und arbeiteten selbst völlig am Limit, immer in dem Wissen, niemandem gerecht zu werden. Doch ich erinnere mich auch daran, wie meine Oma von einer boshaften Pflegerin berichtete, die mit ihr sprach wie mit einem dreckigen Haustier, die sie brutal anpackte und ihr die Hilfe beim Toilettengang versagte. Was muss das für ein Gefühl sein, so behandelt zu werden?
An guten Tagen unterhielt meine Oma die anderen Bewohner mit kleinen Vorführungen, die sie mit ihrer Puppe Luzie darbot. Ich weiß noch, wie mir der Pfleger einmal von einem Anti-NS-Zeit-Stück berichtete, bei dem meine Oma Luzie auf den rechten Arm schlug und ihr verbot, ihn zu heben: „Das machen wir nicht mehr. Das ist böse und verboten!“ Obwohl das Heim nicht im geringsten unseren Wünschen und Anforderungen entsprach, war es schwer, eine Alternative zu finden. Alle Häuser im Umkreis waren belegt. Immerhin hatte meine Oma ein Einzelzimmer mit Balkon. Zudem entwickelte sie romantische Gefühle für ihren Zimmernachbarn, der sie immer zum Abendessen abholte und von dem sie sich nichts sehnlicher wünschte als einen kleinen Kuss. Meine Hochzeit erlebte sie leider nicht mehr, aber als wir sie besuchten, um ihr von unserer Verlobung zu berichten, schaute sie Jan an und sagte: „Das find ich gut! Weißt du warum? — Ich mag dich!“
Durch ihren Tod im Mai 2019 ist ihr wenigstens Corona erspart geblieben.
7. Januar 2022
Es war SO klar, dass ich es nicht schaffe, am 31.12. schnell noch einen Tagebucheintrag zu verfassen. Ich bin schon wieder extrem genervt von mir selbst und es stresst mich total, dass ich es in den letzten zwei Monaten nicht geschafft habe, aufzuschreiben, was alles passiert ist. Dabei will ich ja vor allem erzählen, wie es mir gesundheitlich ergangen ist, aber stattdessen verlaufe ich mich beim Schreiben immer wieder in anderen Geschichten. Also, um das abzuschließen, schreibe ich jetzt kurz was über Weihnachten und Silvester und versuche mich dann auf die wesentlichen gesundheitlichen Entwicklungen zu konzentrieren.
Heiligabend
An Heiligabend sind wir zu meinem Bruder und seiner Freundin Meike gefahren, wo wir den Abend sowohl mit ihren als auch mit unseren Eltern verbrachten. Es gab Rote Beete-Carpaccio, Gulasch mit Klößen und Rotkohl sowie Crème Brûlée. Es war alles sehr lecker, allerdings hab ich anscheinend auf irgendetwas (vielleicht ein Gewürz?) allergisch reagiert. Am nächsten Morgen war mein rechtes Auge dick angeschwollen. Nach ein paar Stunden ging die Schwellung aber von selbst wieder weg. Nachts, nachdem meine Eltern nach Hause und Meikes Eltern schlafen gegangen waren, holte Jan seine Gitarre aus dem Auto und wir machten noch ein bisschen Musik. Allerdings sangen wir dieses Jahr keine Weihnachtslieder. Es war sehr schön, nur Wilma (die Haushündin) kam gar nicht klar, weil sie totale Panik vor der Gitarre hatte.
1. Weihnachtsfeiertag
Der erste Weihnachtsfeiertag war so entspannt wie ewig nicht mehr. Jan und ich lagen den ganzen Tag mit Bettdecke auf dem Sofa und guckten Weihnachtsfilme: Kevin allein zu Haus, Narnia, Stirb langsam, Kevin allein in New York. Zwischendurch kochte Jan uns leckeres Essen. Es gab Schweinemedaillons im Speckmantel, Kroketten, Rotkohl und Speckbohnen. Das Gleiche hat er mir auch serviert, als er vor über 12 Jahren das erste Mal für mich gekocht hat.
2. Weihnachtsfeiertag
Am 26. fuhren wir zum Kaffeetrinken zu meinen Eltern, wo sich auch meine Tante und mein Onkel einfanden. Wir aßen Torte und spielten anschließend „Just One“ und „Pictures“. Beide Spiele kann ich wärmstens empfehlen! Anschließend fuhren wir zu Paddy, Jojo und Paula, wo wir Wraps aßen, Paulas Weihnachtsgeschenke ausprobierten und später am Abend noch ein Exit-Spiel spielten. Während wir rätselten, fing meine Unterlippe plötzlich an zu kribbeln. Meine Mitspieler und der Badezimmerspiegel bestätigten mir eine Schwellung, die im Verlauf der folgenden Stunde zunahm. Am nächsten Morgen sah die Lippe zum Glück fast wieder normal aus. Dennoch rief ich in der KMT-Ambulanz an, um zu fragen, was ich machen soll, wenn Teile meines Gesichts plötzlich anschwellen. Leider war die Leitung durchgehend besetzt. Beim siebten Versuch kam ein Freizeichen, aber es ging niemand ran, auch kein Anrufbeantworter. Ich fand es in meinem Fall nicht so schlimm, da es mir ja ansonsten gut ging. Allerdings hätte ich auch in kritischem Zustand niemanden erreicht. Dass Personalmangel herrscht und sich die armen Schwestern in der KMT-Ambulanz eh schon ein Bein ausreißen, ist seit Längerem bekannt. Wahrscheinlich kamen jetzt noch ein paar Krankheitsfälle hinzu und schwups war niemand mehr ansprechbar.
Abenteuer Diagnose
Am Abend des 27. bekamen wir Besuch von einem netten Mitarbeiter des NDR. Meine lange Suche nach einer Ursache für mein schlechtes Befinden wird bei Abendteuer Diagnose thematisiert. Anfang Februar, passend zu meinem ersten SZT-Geburtstag, werden die Interviews aufgenommen. Ich weiß jetzt schon, dass ich mit meinen Haaren unzufrieden sein werde, die sich zurzeit in alle Richtungen locken und dass ich beim Erzählen bestimmt ein Doppelkinn haben werde. Allerdings habe ich nach den Strapazen des letzten Jahres beschlossen, netter zu meinem Körper zu sein, da er so viel ertragen und überstanden hat. Niemand braucht einen Körper, der perfekt ist; Hauptsache, er ist gesund! Meine „neuen Haare“ finde ich außerdem eigentlich ganz witzig. Ich hatte immer superglattes Haar, woran auch Lockenwickler und Lockenstäbe nichts ändern konnten. Nun habe ich lauter kleine Löckchen und jeden Morgen nach dem Aufwachen einen krassen Strubbelkopf. Ich probiere mich durch diverse Pflegeprodukte für männliche Teenager, hab die ideale Lösung aber noch nicht gefunden. Gestern Abend meinte Jan, mit meinen Creolen und dem Lockenkopf sähe ich aus wie eine Wrestlerin aus den 80ern (Wir haben mal diese Serie GLOW geguckt. Da könnte ich momentan echt gut mitspielen!). Eigentlich mag ich mich mit kurzen Haaren ganz gut leiden, aber trotzdem möchte ich wissen, wie sich meine neuen Locken weiterentwickeln. Vielleicht schneide ich sie mir dann in einem halben Jahr wieder ab.
Höhle! Höhle! Höhle!
Die Nacht vom 28. auf den 29. verbrachten wir bei Anna und Kimbo in unserer diesjährigen Höhle! Während Jan und Anna mit dem Baby zum Einkaufen schoben, spannten Kimbo und ich Schnüre kreuz und quer durch den Raum und befestigten anschließend alle Tücher, Gardinen und Tischdecken, die wir finden konnten, an unserem Konstrukt. In der Mitte befand sich ein großes Sofa, vor welches wir noch zwei Matratzen legten. Nachdem wir die Lichterkette angebracht und das Bettzeug positioniert hatten, war die Höhle fertig. In der Küche backte ich Kekse, während in der Fritteuse auf der Terrasse Currywürste und Pommes brutzelten. Aufgrund der Tatsache, dass Jan am 29. normal arbeiten musste und am Abend des 28. auch noch ein (viel zu langes!) Video-Meeting vom Football aus hatte, war das Höhlenerlebnis in diesem Jahr nicht ganz so gemütlich und entspannt wie letztes Mal. Baby-Mio hat sich übrigens echt vorbildlich verhalten. Klar, er wollte ab und zu etwas trinken und hatte auch mal die Windel voll, aber als wir irgendwann alle geschlafen haben, hat auch er ganz selig geschlummert. Ich bin auf jeden Fall dafür, dass die diesjährige Höhle schon zu Ostern gebaut wird und sich alle Beteiligten zumindest den Abend, die Nacht und den Morgen freihalten.
Telefonat mit der HOPA
Als ich morgens in der Höhle erwachte, war übrigens mein linkes Auge geschwollen. Ich versuchte es daraufhin wieder mit einem Anruf in der KMT-Ambulanz, war aber genauso erfolglos wie die Tage zuvor. Kurz nachdem ich missmutig das Handy weggelegt hatte, klingelte es plötzlich und meine Ärztin aus der HOPA (die meine Diagnose gestellt hatte) meldete sich am anderen Ende. Ich freute mich sehr darüber mit ihr zu sprechen, denn das hatte ich seit meiner Diagnose nicht mehr getan. Zwar hatte ich zwischenzeitlich mal versucht, sie anzurufen, sie aber nicht erreicht. Da sie vom UKE alle Arztberichte erhalten hatte, war sie bestens über den Stand meiner Genesung informiert. Wir waren beide froh darüber, dass sie mit ihrer Einschätzung Recht behalten hatte. Sie sagte, dass sie gerne dazu bereit sei, bei Abenteuer Diagnose über die Schritte bis zur Diagnose zu sprechen. Uns beide wunderte es nicht, dass der Hämatologe aus Lüneburg bereits abgesagt hatte. Schließlich hatte er trotz des Verdachts auf MDS keine Knochenmarkpunktion durchgeführt und meine Probleme nicht ausreichend ernst genommen. Am Ende unseres Telefonats sagte mir die Ärztin, dass ich mit Fragen oder Problemen auch immer zu ihr kommen könne und sie auch weiterhin für mich zuständig sei. Ha! Wie passend! Ich berichtete von meinen abwechselnd geschwollenen Augen und der Unterlippe. Sie vermutete eine allergische Reaktion auf das Essen an Heiligabend. Vielleicht hatte ich irgendein Gewürz nicht vertragen. Es sei durchaus normal, dass solche Reaktionen auch noch Tage nach dem eigentlichen Verzehr auftreten können. Beim nächsten Mal sollte ich einfach eine Cetirizin nehmen. Außerdem wäre ein Allergietest vielleicht keine schlechte Idee.
Verspätetes Weihnachten
Am 30. feierten wir dann noch einmal Weihnachten, diesmal bei meinen Schwiegereltern. Wir aßen Rindfleisch vom heißen Stein mit Rote-Beete-Carpaccio (Mein Bruder hat sich das bei meiner Schwiegermutter abgeguckt) und Brot. Bevor ich ins Krankenhaus gekommen war, war dies eine meiner letzten Mahlzeiten. Als ich nach der Transplantation zum ersten Mal Fleisch aß, schmeckte es widerlich. Ich bekam es kaum heruntergeschluckt. Meine Geschmacksnerven spielten völlig verrückt und verdarben mir jeglichen Genuss. Das mag wie eine Kleinigkeit klingen, aber wenn man nicht mehr richtig schmecken kann, verdirbt das einem den ganzen Tag. Ich glaube, das unterschätzen einige, wenn sie das Covid-Symptom „Verlust des Geschmackssinns“ lesen. Inzwischen hat sich zum Glück alles regeneriert und Rindfleisch vom heißen Stein schmeckt wieder genauso lecker wie vorher. Nach dem Essen spielten wir „Dodelido“, „Just One“ und „Tick… tack… Bumm!“
TickTack
Apropos Tick Tack: Ich darf jetzt erzählen, weshalb ich mit meiner Mutter im Sommer in Hessen war. Wir waren dort im 50er-Jahre-Museum in Büdingen, wo meine Mutter (als 50er-Jahre-Expertin) zusammen mit den Influencerinnen Lisa und Lena eine Folge für das neue Kinder-Geschichtsformat „TickTack Zeitreise mit Lisa & Lena“ zum Thema Gleichberechtigung aufgenommen hat. (Ausstrahlung ist am 05.02.2022, 20:10Uhr im KiKA.)
Lisa & Lena
Ich hatte bis dahin noch nie von den beiden gehört. Google und Instagram verrieten mir jedoch ziemlich schnell, dass die beiden mega erfolgreich sind mit dem was sie tun (Wobei ich immer noch nicht genau weiß, was sie eigentlich tun.). Mit 16,8 Millionen Abonnenten (Ich gender hier nicht, das macht Instagram auch nicht.) haben sie jedenfalls eine riesige Reichweite. Auf der Plattform musical.ly (heute TikTok) begannen sie 2015 mit dem Teilen von Lipsyncvideos und wurden innerhalb eines Jahres zu richtigen Berühmtheiten (innerhalb dieser Bubble). Da sie meist englischsprachige Lieder wählten, wurden sie auch international bekannt. Spätestens als sich Weltstar Ariana Grande als Lisa & Lena-Fan outete (indem sie deren Interpretation ihres Liedes „Into You“ auf Facebook postete) ging es mit den Follower-Zahlen steil nach oben.
Irgendwie ist das komplett an mir vorbeigegangen. Ich hab zum ersten Mal von der Existenz von musical.ly erfahren, als es bereits nicht mehr existierte. Aber ich kann die Faszination für Zwillinge komplett nachvollziehen. Als Kind war ich total begeistert von den Olsen Twins. Den Film „Eins und Eins macht Vier“ hätte ich mir in Dauerschleife angucken können. Wusstet ihr eigentlich, dass die kleine Schwester von Mary-Kate und Ashley ein Avenger ist? Als Wanda überzeugt Elizabeth Olsen sowohl in den Avengers-Filmen als auch in der Serie WandaVision. Als ich im Krankenhaus versuchte, mit der Serie anzufangen, schaffte ich es nicht über die zweite Folge hinweg. Beim nächsten Anlauf (zuhause mit Jan) entwickelte sich die Serie aber zu einem echt ausgefuchsten (schönes Wort) Serienmeisterwerk des Marvel-Universums. Ok, wo war ich eigentlich gerade? Achja, also: Meine Mutter und ich haben einen Tag im 50er-Jahre-Museum in Büdingen mit Lisa und Lena verbracht. Die beiden sind echt sympathisch und trotz der ganzen Influencer-Sache sehr natürlich. Dadurch, dass sie leichte Stupsnasen haben, sehen sie irgendwie niedlich aus. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, sich darüber im Klaren zu sein, welche Reichweite und welchen Einfluss man mit seinen Beiträgen hat, wenn man so viele (vor allem minderjährige) Follower hat wie die beiden. Eigentlich muss ein enormer Druck auf ihnen lasten, denn sie machen nicht gerade den Eindruck als wäre ihnen ihre Vorbildfunktion egal. Gleichzeitig ist es bestimmt super schwer, auf der einen Seite die sympathische, offene und zugängliche Influencerin zu geben und auf der anderen Seite ein Privatleben zu führen, in dem man es nicht witzig findet, wenn dauernd Fans an der Tür klingeln oder einem auflauern. Als ich beim Essen sagte, dass ich mir vorstellen könnte, Kinder zu adoptieren (falls das mit den eingefrorenen Eizellen nichts wird), sagte Lisa ganz begeistert: „Wir sind auch adoptiert!“ Die beiden sahen als Babys bestimmt noch niedlicher aus als heute. Wie gut, dass sie von Eltern adoptiert wurden, die ihnen ein liebevolles Zuhause geben und ein glückliches Leben ermöglichen konnten. Es sind eben nicht immer die Gene, die bestimmen, wer zu unserer Familie gehört. Mal sehen, was mein Leben noch so für mich bereithält.
10. Januar
Toll, Nele. Hat ja richtig gut geklappt mit dem „Kurz über Weihnachten und Silvester reden“. Silvester wurde noch nichtmal erwähnt!
Silvester!
Kaum zu glauben, aber wir hatten zu fünft eine richtig gelungene Silvesterparty. Wir hatten sogar ein Motto! Es war alles dabei: Raclette mit viel zu viel Essen, Bowle mit sehr leckeren Früchten, Harry Potter-Quiz, Karaoke, Tanzen, Berliner, Dinner for One und Silvesterdeko. Ja, ok, eigentlich gehört zu Silvester auch noch: Feuerwerk, Bleigießen (oder diese Luschenvariante: Wachsgießen), Wunderkerzen, Knallerbsen, Neujahresvorsätze, Tischfeuerwerk, Glückskekse, Schornsteinfeger, Knallbonbons und vielleicht noch eine Polonaise. Das gab es alles nicht bei uns. Es war trotzdem sehr gut. Wie sich der schlaue Leser sicherlich schon denken konnte, lautete unser Motto: Harry Potter. Meike hatte Schnatz-Tischdeko gebastelt, von mir gab es Schnatz-Ohrringe und Haus-Buttons. Luise und Meike waren Ravenclaws, mein Bruder und ich Slytherins und Jan war irgendwas zwischen Gryffindor und Hufflepuff. Ich finde ja nicht, dass ich ein Slytherin wäre, aber grün ist meine Lieblingsfarbe und Jan hatte für mich eine passende Krawatte parat. Er selbst hatte noch seine Gryffindor-Krawatte von Bärbels 30. Geburtstag im Schrank. Das Harry Potter-Quiz war ziemlich witzig und tatsächlich schwerer als gedacht. Wir verwendeten die kleinen Schreibkärtchen und Stifte von „Just One“ und die Quizkarten von Trivial Pursuit (Harry Potter-Version natürlich). Jan, Jan, Meike und ich lagen ziemlich dicht beieinander. Nur Luise versagte kläglich. „Welchen Zauberer hatte Harry in seinem ersten Schokofrosch?“ — Luise: „Gandalf“, „Welches Tier ist Harrys Patronus?“ — Luise: „Wal“, „Wie viele Kinder haben die Weasleys?“ — Luise: „Vier“ und so weiter. Am Ende gewann mein Jan. An den Fragen gefiel mir, dass sie sich nach dem richteten, was in den Büchern steht und nicht nach dem, was die Filme zeigen. Wahrscheinlich hab ich das schonmal gesagt und wahrscheinlich sagt das eh jeder über jedes Buch, das verfilmt wurde: Die Bücher sind so viel besser als die Filme! Nicht falsch verstehen, ich mag die Filme. Wir haben erst gestern Abend den dritten Teil geguckt. Aber es wird so viel weggelassen! Ist euch mal aufgefallen, dass im Film gar nicht erwähnt wird, dass Lupin Moony ist, Sirius=Tatze, James=Krone und so weiter? Harry weiß im Film gar nicht, dass sein Vater einer der Urheber der Karte des Rumtreibers ist. Das komplette Thema der Animagi wird außen vor gelassen. Deshalb erfährt man später auch nichts über das Ende von Rita Kimmkorn! Und was ist eigentlich mit den Hauselfen? Mit Winky? Mit dem B.Elfe.R? Warum bekommt man weder die Hogwarts-Küche noch das St. Mungos zu Gesicht? Im Film wird einfach davon ausgegangen, dass Nevilles Eltern tot sind. Außerdem, was ist mit der ganzen Familiengeschichte von Tom Riddle? Ooooh und wenn ich schon dabei bin mich hier nerdig über Harry Potter-Verfilmungen aufzuregen: Wieso ist die Verfilmung des fünften Teils so verdammt kurz und beschissen umgesetzt??? Wo sind denn bitte die ganzen coolen Räume der Mysteriumsabteilung, auf deren filmische Darstellung ich mich beim Lesen schon gefreut habe? Wahrscheinlich könnte ich in irgendeinem Harry Potter-Forum Antworten auf all meine Fragen bekommen, aber so schlimm ist es dann doch noch nicht um mich bestellt. Und ja, Anna, ich könnte mir auch endlich mal den Harry-Podcast anhören, aber irgendwie gefiel mir die eine Minute, die ich davon mal probeweise gehört habe, nicht. OK, jetzt hab ich doch gegoogelt und bin in einem Harry Potter-Forum gelandet. Haltet euch fest: Anscheinend wurden die Räume der Gedanken, der Liebe, der Planeten und der Zeit gefilmt, aber dann wieder herausgeschnitten!!!! Geht’s noch? Ich will die sehen!
So, genug von Harry Potter.
Wir haben bis 6 Uhr morgens Karaoke gesungen und das neue Jahr gefeiert. Nach dem Aufwachen musste ich mich erstmal übergeben, aber es kam nichts. Da war nur dieser unangenehme Würgreiz. Ich trank ein Glas Wasser und kotze ein Glas Wasser aus. Naja, was man am 01.01. halt so macht. Es reicht mir jetzt auch erstmal wieder mit dem Alkohol, aber die Bowle war echt lecker!
Der Versuch, alles aufzuschreiben, was (gesundheitlich) seit meinem letzten Beitrag passiert ist
Bevor ich berichten kann, was seit meinem letzten Beitrag gesundheitlich los war, muss ich erstmal meinen letzten Text überfliegen. War das der mit unserem Urlaub und so? Hab ich seitdem echt nichts mehr geschrieben? Tststs.
Nach dem Überfliegen:
Oh, krass. Ich war ja total im Urlaubsmodus. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass ich mich im letzten Beitrag gewählter ausgedrückt habe als dieses Mal. Egal, scheiß drauf!
Am 29. Oktober war ich in der KMT-Ambulanz und erhielt (wie angekündigt) meine 5‑fach-Impfung gegen Diphtherie, Tetanus, Polio und die anderen beiden Krankheiten. Anschließend schwächelte ich zwar ein paar Tage, aber insgesamt ging es mir recht gut.
Besonders gut ging es mir, als ich am 31. erfuhr, dass Anna einen gesunden Jungen zur Welt gebracht hatte. Zwar lief nicht alles nach Plan, aber zum Glück waren Mutter und Kind wohlauf. Ich bin jedes Mal wieder fasziniert, wie die Natur das macht. Da haben einfach zwei Menschen einen neuen Menschen gemacht! Und dann ist der auch noch so süß und gut gelungen! Wahnsinn. Nur zwei Wochen später legte Bärbel nach und brachte eine niedliche Helena zur Welt. (@Elmar und Bärbel: Habt ihr sie eigentlich nach der Grauen Dame aus Harry Potter benannt?)
Bei all den Geburts-Komplikationen, die ich in unserem Freundeskreis schon mitbekommen habe, bin ich mal wieder heilfroh, dass wir in Deutschland ein gut funktionierendes Gesundheitssystem haben, das mit all seinen Früherkennungsmethoden verhindert hat, dass meine Freundinnen und ihre Babys einfach sterben. Ohne Wissenschaft und Forschung wären viele von uns inzwischen einfach tot. (Ich wäre wohl bereits 2009 an meiner Blinddarmentzündung gestorben.)
Ärztliches Gutachten
Bei meinem Termin in der KMT-Ambulanz bat ich meine Ärztin um die Erstellung eines ärztlichen Gutachtens für die Behörde. Wenn man lange krankgeschrieben ist, wird man nämlich zum Amtsarzt geschickt. Da der aber schlecht mein blutbildendes System angucken und begutachten kann, ist er auf die Auskünfte der Spezialisten angewiesen. „Wenn er Sie so sieht, kann er ja nicht ahnen, was Sie durchgemacht haben und wo Sie sich auf dem Weg der Heilung erst befinden“, sagte meine Ärztin zu mir. Das beschreibt ganz gut die Angst, die ich teilweise habe. Die Angst, dass man meine Kräfte und meine Gesundheit überschätzt. Ja, es geht mir soweit gut, dass ich meinen Alltag hinbekomme, aber das klappt auch nur, weil ich jeden Tag bis 10 Uhr schlafe, mich regelmäßig ausruhe und Stress so gut wie möglich vermeide. Trotzdem leide ich immer wieder unter Tinnitus, Schwindelanfällen und Erschöpfungszuständen. Mein Körper zeigt mir sehr deutlich, wenn ich ihn überlaste. Hinzu kommen die Probleme, die meine Psyche hin und wieder verursacht. Manchmal, vor allem nachts, kurz vor dem Einschlafen, kommen finstere Gedanken in meinen Kopf. Gedanken, die niemand haben möchte und die mir Angst machen. Ich glaube, dass ich im Schlaf ziemlich viel von dem verarbeite, was im letzten Jahr mit mir passiert ist. Mein Kiefer schmerzt, mein Nacken ist verspannt, die Schmerzen ziehen bis in den unteren Rücken. Jan sagt, dass ich auf jeden Fall fitter bin als vor einem Jahr. Manchmal kommt es mir nicht so vor, aber ich glaube ihm einfach mal. Mir fehlen aber auch schlichtweg die Vergleichsmöglichkeiten. Wie lange dauert es, bis man nach einer Stammzelltransplantation wieder richtig fit ist? So pauschal kann das sicher niemand beantworten, aber ich hoffe, dass es schnell weiter bergauf geht. Die immer bestehende Gefahr eines Rückfalls blende ich aus. Allein der Gedanke an mein Krankenhauszimmer verursacht mir Übelkeit.
Am 01.11. erhielt ich den Ambulanzbrief, dem ich folgende aktuelle Diagnosen entnehmen konnte:
- Komplette molekulare Remission der hämatologischen Grunderkrankung
- Kompletter Spenderchimärismus
- Chronische GvHD der Haut und der Muskulatur, Gesamtgrad, mild
- Fatiguesymptomatik
- Eingeschränkte zelluläre Immunität mit einer CD4-Helferzahl <200/µl (Normalbereich: ca. 500 – 1400. Bei Werten unter 200 ist das Immunsystem noch stark geschwächt.)
Darunter stand nochmal die ursprüngliche Diagnose:
- Myelodysplastisches Syndrom vom Typ eines MDS-EB1
- Zytogenetik: 46, XX, t(3;12)
- Molekulargenetik: KRAS‑, SH2B3-mutiert
- Risikoprofil:
- IPSS intermediate risk 1
- IPSS‑R high risk
- Ausschluss einer Chromosomenbrüchigkeit und Telomeropathie
Außerdem stand da noch ganz viel anderer Kram, den aber wahrscheinlich nur Ärzte verstehen können. Der Termin beim Amtsarzt wird aber noch einige Zeit auf sich warten lassen. In einem Schreiben teilte mir das Gesundheitsamt mit, dass sie gerade dabei wären, die Fälle von Mai abzuarbeiten.
Infekt
Dass mein Immunsystem noch nicht wieder voll funktionsfähig ist, merkte ich auch Mitte November, als mich eine starke Erkältung umhaute. Ich verbrachte ein paar Tage auf dem Sofa, trank Tee und ruhte mich aus. Nach einer Woche war der Spuk zum Glück wieder vorbei.
Bäckerei —> Kunstraum
Vor und nach dem Infekt ging meine komplette Freizeit (neben dem Abtippen von Omas Tagebuch) für die Renovierung der alten Backstube drauf. Beinahe jeden Tag verbrachte ich ein paar Stunden in dem großen Raum, der sich Stück für Stück in einen Kunstraum verwandelte. Mit dabei waren oft auch Luise, Lukas, Alan und eigentlich immer meine Mutter. Es tat mir sehr gut, mich voll und ganz und ohne Druck einem neuen Projekt zu widmen. Ich putzte, bohrte, spachtelte und malte. Abends war ich auf angenehme Weise erledigt, sodass ich ohne Probleme einschlafen konnte. Morgens wachte ich dann langsam auf und startete ruhig in den Tag. Normalerweise.
Überraschung.
Nicht so am 17. November…noch halb im Traum vernahm ich plötzlich Stimmen. Sie klangen unheimlich dicht. Entweder stand der Wind besonders günstig und trug die Geräusche der Arbeiter vor der Schule drei Stockwerke tiefer zu mir hoch oder….ODER DIE DACHDECKER STANDEN MIT EINEM STEIGER DIREKT VOR MEINEM SCHLAFZIMMERFENSTER! Zu allem Übel hatte ich in der Nacht anscheinend eine meiner Hitzeattacken gehabt, denn ich lag splitterfasernackt und zudem völlig bettdeckenbefreit auf meinem Bett unter dem Dachfenster. Von jetzt auf gleich war ich hellwach, griff meine Decke und stürzte mit ihr aus dem Bett und aus dem Zimmer.
Ein paar Wochen später brach nachts plötzlich meine Seite des Bettes zusammen. Ich konnte mich gerade noch auf Jans Matratze retten, bevor ich in den Abgrund gestürzt wäre. Anscheinend ist mein Elektro-Lattenrost nicht wirklich mit dem Hemnes-Bettgestell kompatibel.
Man ey, passiert euch sowas eigentlich auch manchmal?
Gratis-WLAN bei Lidl
Am 19. November war die Renovierung der Bäckerei abgeschlossen. Quasi als Einweihung feierte Jessica (aus unserer JRK-Gruppe) ihren 18. Geburtstag in unserem neuen Raum. Als Luise und ich kurz vor Beginn der Party eintrafen, um nach dem Rechten zu sehen, war Jessica in Panik, da ihre Spotify-Geburtstagsplaylist nicht vollständig heruntergeladen worden war. Bis in die Haarspitzen gestylt, mit kurzem knallroten Kleid und hohen Stiefeln sagte sie: „Ich muss zu Lidl!“ Als sie unsere verdutzten Gesichter sah, ergänzte sie (als sei das absolut verbreitetes Allgemeinwissen): „Da gibt es WLAN!“ Da wir eh nichts weiter zu tun hatten, nahmen wir ihr gerne ihr iPad und die Aufgabe des Downloads ab. Auf dem Lidl-Parkplatz angekommen, suchte ich das Gratis-WLAN, wurde aber erst direkt am Eingang fündig. Leider war der Empfang noch nicht optimal, sodass wir ins Geschäft hinein gehen mussten. Direkt vor dem Wurstregal lief der Download dann einwandfrei. Es wäre sicher interessant gewesen, Jessica in ihrem Outfit eine Viertelstunde vor den Fleischwaren mit ihrem iPad stehen zu sehen. So sah es einfach nur so aus, als hätten Luise und ich sehr viel Langeweile und könnten uns nicht zwischen Serrano- und Bauernschinken entscheiden. Während wir warteten, fand ich ein cooles Lego-Flugzeug, das ich für Jans Adventskalender mitnahm. Außerdem gönnten wir uns eine Flasche Weißwein. An der Kasse legte ich noch eine Packung Kaugummi dazu. Die russische Kassiererin musterte uns belustigt: „Wein und Lego? Das wird ja ein wilder Abend!“
Partyzeit
Als wir um 20Uhr, pünktlich zu Beginn der Party, zurückkamen, waren bereits fast alle Gäste da! Wir waren vollkommen irritiert. Wenn „zu unserer Zeit“ eine Party um 20Uhr begann, tauchte doch niemand vor 22Uhr auf, oder? Als Gastgeberin wäre ich damals völlig überrumpelt gewesen, wenn die Gäste tatsächlich alle um 20Uhr bzw. sogar noch VOR 20Uhr aufgetaucht wären! Wahrscheinlich ist die Jugend von heute durch Corona so ausgehungert, dass sie keine Party-Minute verpassen will.
Laterne, Laterne
Am Tag nach Jessicas Party trafen wir uns mit den Happy Hippos zum Laternelaufen in der Bäckerei (eigentlich wollten wir dem Raum einen kreativen und inspirierten Namen geben, aber inzwischen hat sich „Bäckerei“ durchgesetzt). Der ursprüngliche Plan sah vor, dass wir uns kurz drinnen treffen, ein paar Kekse essen, um dann zu einem Spaziergang mit Laternen aufzubrechen. Die Kinder hatten jedoch so viel Spaß in dem großen Raum, dass sie keine Lust auf einen Umzug an der frischen Luft hatten. Stattdessen schalteten wir das Licht aus uns und marschierten singend und laternenschwingend durch das Gebäude.
Raumnutzung
Seit diesem Wochenende treffen wir uns regelmäßig in unterschiedlichsten Konstellationen in der Bäckerei. Zweimal die Woche wird gemalt, mittwochs finden die JRK-Gruppenstunden statt und dienstags treffen wir uns abends zum Spielen. Außerdem feierten wir drei wunderbaren Weihnachtsfeiern mit Tannenbaum und festlicher Tafel in dem Raum.
Booster
Am 13. Dezember lag meine zweite Coronaimpfung genau 5 Monate zurück, wodurch ich „berechtigt“ war, mich boostern zu lassen. Recht spontan fuhr ich daher zum neuen Impfstützpunkt des DRK im ehemaligen Chinarestaurant High Noon. Ohne auch nur eine Minute warten zu müssen, bekam ich ein paar Zettel zum Ausfüllen in die Hand gedrückt und ging danach direkt weiter ins Arztgespräch. Normalerweise sollte ich Moderna bekommen, da ich über 30 bin und bei einer Kreuzimpfung (bisher hatte ich BioNTech) von einer besseren Wirksamkeit ausgegangen wird. Ich machte die Ärztin darauf aufmerksam, dass ich mir aufgrund meiner Erkrankung nicht sicher sei, wie mein derzeitiger Immunstatus ist. Da bei Moderna zwischen normalen Dosen und Dosen für Immungeschwächte unterschieden wird, bei BioNTech jedoch immer dieselbe Dosis gespritzt wird, entschied sich die Ärztin schließlich für ein erneutes Impfen mit BioNTech. Mir persönlich wäre alles recht gewesen. Ich habe keine Ahnung (so wie die meisten, auch wenn viele Menschen plötzlich glauben, Impfexperten zu sein, weil sie zwei Artikel im Internet gelesen haben) und verlasse mich daher vollkommen auf die Meinung der geschulten Ärzte. Meine Impfreaktion war dieses Mal ein bisschen stärker als die beiden vorherigen Male. Ich fühlte mich etwa eine Woche lang schlapp und hatte verstärkt Glieder- und Rückenschmerzen. Das war‘s dann aber auch.
Schlechte Nachrichten
Anfang Dezember erhielt ich in meiner MDS-Facebook-Gruppe die traurige Nachricht, dass die junge Frau, von der ich vor ein paar Monaten erzählt hatte, gestorben ist. Das Wissen darum, dass ein Fünfjähriger gerade seine Mutter für immer verloren hat, stimmte mich furchtbar traurig. Auch ein anderes Gruppenmitglied, eine etwas ältere Frau, deren Transplantation schon zwei Jahre zurücklag und die bereits wieder voll im Leben stand, hatte anscheinend einen Rückfall erlitten und war schon vor einigen Monaten verstorben.
KMT-Ambulanz
Am 17. Dezember war mein letzter Besuch in der KMT-Ambulanz im Jahr 2021. Meine Blutwerte waren ein bisschen schlechter als sonst, was direkt nach der Impfung aber normal sei, meinte meine Ärztin. Ich berichtete ihr von meinen anhaltenden und teilweise sehr starken Rückenschmerzen, woraufhin sie mir IBU 800 verschrieb und sagte, ich könne sie mir ruhig mehrmals täglich „reinballern“. Zudem verordnete sie mir Wärme & Massagen für Kiefer und Rücken. Wir waren uns beide darüber einig, dass die Ursache meiner Schmerzen wahrscheinlich in meiner Psyche liegt. Während der Verarbeitung meiner negativen Erinnerungen und depressiven Gedanken, presst sich mein (eh schon kaputter) Kiefer so stark zusammen, dass sich die Verspannung auf meinen Nacken und schließlich auf den gesamten Rücken auswirkt.
Kinesiologe
Da ich aber eigentlich nur nachts von diesem psychischen Stress „heimgesucht“ werde, lehnte ich eine generelle Behandlung mit Anti-Depressiva oder Ähnlichem ab. Stattdessen schrieb mir meine Ärztin Schlaftabletten auf, die ich bei Bedarf nehmen kann. Bisher musste ich aber glücklicherweise noch nicht auf sie zurückgreifen. Stattdessen machte ich einen Termin bei einem Kinesiologen und Psychotherapeuten (er hat auch noch 13 andere Schwerpunkte), der mir vor einigen Jahren schon einmal sehr helfen konnte, als ich unter großem Stress litt und meine Probleme nachts verarbeitet habe. Meine Ärztin meinte, das sei eine gute Idee, da sie mir ansonsten einen Termin beim Psychoonkologen empfohlen hätte.
Blutgruppe und Corona
Im weiteren Verlauf des Gesprächs fragte ich noch, ob meine Blutgruppe inzwischen komplett gewechselt habe. Das könne sie mir leider erst beim nächsten Termin sagen, da sie dieses Mal keine Blutgruppenbestimmung angefordert habe. Sie gehe aber davon aus, dass ich inzwischen 0+ habe. Meine Physiotherapeutin sagte mir neulich, dass es wohl weltweit mehrere Studien gäbe, die den Zusammenhang von Blutgruppen und Coronainfektionen untersucht hätten. Demnach gäbe es Hinweise darauf, dass Menschen mit der Blutgruppe A am anfälligsten für Covid-Infektionen seien, während Personen mit der Blutgruppe 0 hingegen kaum infiziert würden. Sollte das stimmen, hätte ich mit meinem Wechsel von A+ zu 0+ ja alles richtig gemacht.
Brief an meinen Spender
Am Ende meines Besuchs in der KMT-Ambulanz gab ich bei der SZT-Koordinatorin einen Brief für meinen Spender ab. Natürlich hatte ich alles Persönliche weggelassen, um die nötige Anonymität zu wahren. Zur Kontrolle wurde der Brief von der Koordinatorin durchgelesen und anschließend über die DKMS an meinen Spender weitergeleitet. Ob ich eine Antwort von ihm bekommen werde, weiß ich nicht. Ich würde es ihm aber auch nicht übel nehmen, wenn er mir (wenn überhaupt) sehr spät zurückschriebe, denn ich bin selbst grottenschlecht im Beantworten von Briefen. Das können diverse Beinahe-Brieffreundinnen aus meiner Kindheit bestätigen. Ein Briefprojekt, das ich mit meinem ersten Jahrgang 2015 durchgeführt habe, hat mir gezeigt, dass auch einige meiner männlichen Freunde es nicht geschissen kriegen, einen Brief zu beantworten, obwohl keine böse Absicht dahintersteckt. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass Fabians Brief irgendwann bei Jason ankommen wird, auch wenn sich seine Adresse bis dahin bestimmt geändert haben wird. Bei Matze hab ich allerdings jede Hoffnung aufgegeben. Das wird nichts mehr, Leon!
So. Ich denke, dass ich nun genug geschrieben habe. Zwar bleiben einige wirklich fantastische Momente mit meinen Freunden und meiner Familie unerwähnt und ich habe auch nicht erzählt, dass Jan bei EBay plötzlich Thomas hieß und aus Erfurt kam, aber das ist ja auch egal. In meinem Kopf ist alles abgespeichert und außerdem existieren noch diverse Fotos und Videos, die mich immer an die schönen Stunden meines Lebens erinnern werden.
Bleibt oder werdet gesund!
Danke für den Einblick und deine absolut fesselnd geschriebene Zusammenfassung. ❤️
Die Wahl für den Namen Helena hatte viele Gründe. An die graue Dame habe ich nicht gedacht. Aber es ist ein schöner Gedanke. Mir schwebten da eher die Helena Löckchen vom Griechen im Kopf. 🤣
Hör den Harry Podcast! In meinem Kopf (weil Handy nehmen und in echt schreiben ist schwer, du weißt) hab ich dir den schon so oft empfohlen 😀 die erste Minute fand ich damals auch doof aber sobald man sich reingehört hat ist es großartig 😘
Ihr habt vollkommen recht! Sobald man sich an die Sprechweise gewöhnt hat, ist es grandios!😃 Vor allem entspricht ihre Sichtweise sehr oft meinen Gedanken.