Nele = Mucki
Heute Morgen hat mir eine etwas ältere und insgesamt etwas verplantere Schwester die Haare abrasiert. Ich glaube, sie macht das nicht so oft.
Es begann damit, dass ich beim Aufwachen ziemlich viele Haare auf meinem Kopfkissen vorfand. Dass dieser Tag kommen würde war mir ja vorher klar und es war auch völlig ok für mich, sofort Abschied von meinen Haaren zu nehmen, denn ich fühlte mich bereits wie Mucki (der stark haarende Kater meiner Eltern) und wollte dieses Problem möglichst schnell aus dem Weg schaffen. (Wenn ich so drüber nachdenke, führen Mucki und ich ein ziemlich ähnliches Leben. Er liegt auch die meiste Zeit irgendwo rum, kuschelt gerne, ist mit sich selbst im Reinen, kann kämpfen, wenn es sein muss und hat Menschen um sich, die ihn lieben und alles für ihn tun würden. Manchmal ist er auch einfach maulig, anstrengend und weiß nicht, was er will.)
Während die Schwester meine Medikamente einstellte, sagte ich ihr, dass ich vor dem Duschen gerne meine Haare abrasieren würde. Sie fragte, ob ich Hilfe bräuchte, was ich bejahte, da es mir hier nicht möglich ist, meinen Kopf von hinten zu sehen. Hätte ich bloß nein gesagt!
Was soll schon schiefgehen?
Was kann man beim Rasieren eines Kopfes schon falsch machen, fragt ihr euch? Eine ganze Menge! Zunächst einmal hielt sie den Haarschneider falsch herum, sodass nicht überall eine gleichmäßige 2 mm-Länge entstand, sondern meine Haare teilweise bis auf die Kopfhaut abgesäbelt wurden und an anderen Stellen „Haarfelder“ von bis zu einem Zentimeter stehenblieben. Sie ging in keinster Weise systematisch (von rechts nach links, oben nach unten, unten nach oben, vorne, hinten, irgendwas) vor, sondern rasierte irgendwie drauf los. Als sie (ihrer Meinung nach) fertig war und meine Haare verteilt auf dem Badezimmerboden lagen, ging ich duschen und nahm anschließend ein paar Korrekturen an meiner Stirn mit dem Nassrasierer vor. Aufgrund der erhöhten Verletzungs- und Infektionsgefahr sollte ich eigentlich gar keinen Nassrasierer mehr benutzen und wegen der Immunsuppressiva habe ich zurzeit auch einen leichten Tremor (Muskelzittern) in den Händen, aber so konnte ich das nicht stehenlassen. Verdammt, ich hatte echt Angst, mir die Schläfen aufzuschlitzen.
Knastfrisur
Als ich endlich im Badezimmer durch war, bezog ich schnell mein Bett neu und ließ mich hineinfallen. Jedes Mal, wenn ich aus diesem schwülen, heißen Zimmer komme, habe ich das Bedürfnis, mich an ein geöffnetes Fenster zu stellen. Tja, Pech gehabt, vielleicht in zwei Wochen wieder. Ich saß also auf dem Bett und wollte Jan ein Foto meiner neuen Frisur schicken. Bereits beim Anblick des ersten Bildes meines Hinterkopfes hatte ich zwei Erkenntnisse: 1. Ich habe einen ziemlich großen Leberfleck auf der rechten Seite, der mir bisher verborgen geblieben war. 2. Die Schwester hatte ihre Arbeit noch viel schlechter verrichtet als geahnt. Auf keinen Fall möchte ich hier sagen, dass ich mich wie Jana aus Kassel gefühlt habe oder irgendwelche unpassenden Vergleiche zu Nazis und Juden aufstellen. REIN OPTISCH sah mein Kopf aber so aus wie der eines Konzentrationslagerinsassens. Als hätte man einem grobmotorischen Kind eine stumpfe Schere in die dicken Finger gedrückt und gesagt: „Mach mal die Haare ab.“
Rettungsversuch
Ich wartete den Schichtwechsel ab und bat dann die neue Schwester um Hilfe. Sie erkannte das offensichtliche Problem und holte schnell den Haarschneider. Es hätte also doch noch alles gut ausgehen können. Hätte. Wenn der Haarschneider nicht plötzlich kaputt gewesen wäre und die Schwester stattdessen einen Einwegrasierer geholt hätte. Immerhin war sie ja nicht Schuld an dem Problem und gab sich größte Mühe, meinen Kopf zu retten. Am Ende waren die dunklen Haarinseln weißen Flecken gewichen. Damit konnte ich leben, schließlich fallen auch die Stoppeln bald aus und dann ist eh alles „weiß“ bzw. glatt und haarlos. Darauf freue ich mich ein bisschen, denn diese piksigen Haare stören mich beim Schlafen. Als würden sich die Stoppeln wie bei einem Klettverschluss in meinen Kopfkissenbezug haken.
Voll schön
Dadurch, dass ich die letzten Wochen Cortison bekommen habe, ist mein Gesicht ein bisschen angeschwollen oder fühlt sich zumindest so an. Da mir außerdem noch seeeeehr viele andere Medikamente eingeflößt wurden, ist meine Leber momentan etwas überfordert und meine Werte sind nicht die besten. Ganz leicht kann man das auch an meinen Augen sehen, deren Weiß meiner Meinung nach ein bisschen gelblich ist. Immerhin hat das erste Chemo-Medikament (Thiotepa) dafür gesorgt, dass sich meine Haut insgesamt etwas bräunlich verfärbt, wodurch ich aussehe wie nach ein paar Tagen Tunesien. Ich hab sogar richtig viele Sommersprossen bekommen! Was die Mukositis optisch in meinem Mund anrichtet, will ich euch gar nicht erzählen. Aber es ist echt eklig. Ich bin inzwischen so weit, dass ich meinen Speichel in eine Kotztüte spucke, weil das Schlucken zu schmerzhaft ist. Auch das Sprechen fällt mir sehr schwer und ich höre mich gar nicht nach mir an. Meine Stimme hat momentan eher Ähnlichkeit mit der von Veronica Ferres.
Ihr seht also, optisch bin ich gerade ganz vorne mit dabei. Gut, dass ich mit dem Thema Dating durch bin und inzwischen genug Selbstbewusstsein habe, um mein Äußeres so hinzunehmen wie es ist. In einem Monat werde ich eh wieder ganz anders aussehen. Außerdem darf man dank Corona sowieso niemanden im realen Leben ohne Maske sehen.
Calippo und Spiegelreflex
Mein Versuch, einen Schluck Salbeitee zu trinken, ging gerade gründlich schief. Ich hab mich so verschluckt, dass ich einen üblen Hustenanfall bekam, der ECHT wehtat. Das mit dem Essen und Trinken lass ich erstmal sein. Wozu gibt es schließlich künstliche Ernährung?!
Hab es noch nicht mal geschafft, mein Calippo-Eis zu essen. Es ist dann traurig vor sich hin geschmolzen und wurde schließlich von mir ins Waschbecken gegossen. So sollte kein Calippo-Leben aussehen! Am Kiosk mit dem letzten Kleingeld erworben, freudig erwartet, von der Sonne geküsst sollte es von einem strahlenden Kind genüsslich geschleckt, gelutscht, verzehrt werden. Das Ganze am besten im Freibad, beim Sommerfest oder während einer Tretbootfahrt.
So ähnlich wie mein Calippo müssen sich auch die ganzen schönen Spiegelreflex- und Systembildkameras vorkommen, die soooo viel können. Sie wurden hergestellt, um Leistung zu zeigen, um ihre fachkundigen Benutzer angesichts ihrer Einstellungsmöglichkeiten in Verzückung zu versetzen. ABER DANN wird so eine arme Kamera von jemandem gekauft, der denkt, die Kamera würde die Fotos ohne Unterstützung des Fotografen machen. „Ich fotografiere immer in der Automatik“, hört man solche Besitzer oft sagen. Verdammt, dann reicht auch die Kamera deines iPhones! Die macht im Auto-Modus inzwischen bessere Bilder als die Kameraautomatik.
Highlight
Sorry, ich schweife ab. Zurück zu meinem Tag: Am Ende gab es noch ein schönes Highlight für mich. Meine Tante und mein Onkel sind vorbeigekommen und haben mir eine Aufmunterung vorbeigebracht. Ich konnte ihnen vom Fenster aus winken. Alke hat es sogar fast bis zu meinem Zimmer geschafft! Erst an der Schleuse zur Isolierstation hat man sie „zurückgehalten“. Ich stelle mir gerne vor, dass sie mit einem Pfleger kämpfen musste, der es schließlich schaffte, sie unter starkem Protest und Gegenwehr zurück in den Fahrstuhl zu schieben. Sie hat bestimmt alles versucht, um bis zu mir vorzudringen, aber ich lebe hier nun mal in einer Festung.