Blutabnahme
Heute Morgen bei der Blutabnahme haben sie echt übertrieben. Während ich noch im Halbschlaf den fantastischen Sonnenaufgang über Hamburg betrachtete, wurden mir 16 (!!!) Blutproben abgenommen. Zwei Proben wurden in Fläschchen abgefüllt, die mich sofort an Mexikaner oder Tabasco denken ließen. Damit ihr mir nicht unterstellen könnt, ich würde hier maßlos übertreiben, hab ich extra Beweisfotos anfertigen lassen. Krass, oder? Falls ich jetzt blutarm sein sollte, weiß ich wenigstens warum.
Nach der meiner Morgenroutine packte ich heute erstmal meinen Koffer mit Schmutzwäsche und Dingen, die ich hier nicht mehr brauche, um ihn später mit Jan gegen einen Koffer mit frischen Sachen zu tauschen.
Geschmacksache
Ich glaub, ich hab die coolsten Leukozyten von allen abbekommen. Die Dinger sind richtig hart am Arbeiten und haben es geschafft, meine Schluckbeschwerden und Halsschmerzen binnen kürzester Zeit verschwinden zu lassen. Also theoretisch könnte ich jetzt wieder essen und trinken. Praktisch ist das aber leider nicht so einfach, da mein Körper in den letzten paar Tagen anscheinend vergessen hat, wie man das macht. Ich habe mich heute schon zweimal beim Trinken verschluckt und bekomme ständig Schluckauf. Zudem begleitet mich seit heute Morgen eine latente Übelkeit. Immerhin hab ich es geschafft, zum Frühstück eine Hand voll Cornflakes zu essen. Das war’s dann aber auch. Meine Mundschleimhaut ist natürlich noch nicht wieder komplett hergestellt und auch mein Rachenraum fühlt sich noch sehr seltsam an. Am nervigsten ist allerdings der Geschmack in meinem Mund, den ich keinem bisher gekannten Geschmack zuordnen kann.
Mädchen
Gegen Mittag bekam ich Post. Wie aufregend! Ich liebe es, einen Umschlag oder ein Paket in der Hand zu halten und nicht zu wissen, was sich im Innern verbirgt. (Aber das geht vermutlich jedem so, sonst würde Geschenkpapier ja gar keinen Sinn ergeben und längst ausgestorben sein.) Eva hatte mir eine Karte geschrieben und zwei Zeitschriften (Mädchen, JOY) sowie Süßigkeiten mit in den Umschlag gepackt. Mega gut! Früher haben wir uns regelmäßig die Girl und die Mädchen gekauft und uns stundenlang mit deren Inhalten beschäftigt. Inzwischen scheint es keine Film‑, Serien- und Popstars mehr zu geben; An ihrer Stelle stehen jetzt Influencer, YouTuber und TikTok-Challenges. Passend dazu gibt es neben jedem zweiten Beitrag eine Art Button mit „Gleich auf Instagram/YouTube checken“. Immerhin sind die Fotostorys noch genauso bescheuert wie damals (Titel: Ein Traumboy für Lucy). Auffällig ist übrigens auch, dass überproportional viele englische Wörter in den Überschriften und Texten auftauchen. Ich frag mich, ob die Jugend von heute wirklich so spricht oder ob die Autoren nur besonders hip/cool sein wollten. Hier einige Beispiele:
- Body positivity meets fitness
- We love Pollunder
- Artsy Bettwäsche mit Face-Design
- Wie trägt man eigentlich Gummistiefel? (OK, kein Englisch, aber trotzdem bescheuert)
- Marie zeigt uns ihre Happy Five Kuschel-Looks
Mädchen-Fragen werden nun nicht mehr von Gabi (Frag Gabi) beantwortet, sondern von einer YouTuberin namens Barbara. Am besten gefallen hat mir das Problem einer 13-Jährigen, die traurig ist, weil ihre Eltern keine Perioden-Party für sie geschmissen haben als sie zum ersten Mal ihre Tage hatte. „Ich möchte nicht mit meinen Eltern darüber sprechen, denn ich will auf keinen Fall nachtragend, eingebildet oder geschenksüchtig rüberkommen. Ich bin nur total traurig deswegen.“ Wie sollen Eltern denn auf so eine Idee kommen?!? Früher war es normal, dass 13-jährige Mädchen alles andere als scharf darauf waren, dass die ganze Welt von ihrer Menstruation erfährt. Aber anscheinend haben sich die Zeiten auch in diesem Punkt geändert.
Dank des Psychotests weiß ich jetzt übrigens, dass Jan wirklich auf mich steht.
Koffertausch
Jan kam nach der Arbeit vorbei und brachte mir frische Wäsche, mein Nackenkissen, ein bisschen Krankenpost und Süßigkeiten. Kurz bevor er beim UKE ankam, begann es draußen heftig zu schneien. Innerhalb kürzester Zeit war alles weiß, dicke Flocken fegten durch die Luft und bedeckten sogar meinen Balkon mit einer zarten Schicht Frischschnee. Ich stand am Fenster und sah ihn kommen. Er hingegen konnte mich aufgrund des Schnees (und sicherlich auch wegen der dreckigen Scheiben) nur schemenhaft erkennen. Aber allein zu wissen, dass wir nur ein paar Meter voneinander getrennt waren, fühlte sich gut an. Ich gab der Schwester Bescheid, die daraufhin nach unten fuhr und mit Jan einen Koffertausch vornahm. In meinem Zimmer angekommen wurde der Koffer auch sofort geleert. Ich hoffe wirklich sehr stark, dass meine Geschmacksnerven sich bald beruhigen und die Übelkeit verschwindet, denn Jan hat mir richtig viele leckere Sachen gekauft. Außerdem hab ich auch noch Schoko-Reiswaffeln von meiner Tante und Schnuller von Eva. Als ich voller Begeisterung in ein Mikado-Stäbchen biss, musste ich gleich darauf alles wieder ausspucken, weil ich überhaupt nichts von dem gewohnten Genuss schmeckte, sondern sich der eklige Grundgeschmack in meinem Mund nur noch weiter ausbreitete. Klar, das ist eine normale Folge der Chemotherapie, die irgendwann wieder weggeht und von der ich auch vorher wusste, aber ich hatte es mir irgendwie anders vorgestellt und nicht damit gerechnet, dass es mich so nerven würde. Glücklicherweise laufen die ganzen leckeren Dinge noch lange nicht ab, sodass ich noch genug Zeit haben werde, sie zu genießen.
Geschenke
Neben der Kleidung und den Süßigkeiten enthielt der Koffer auch meinen Kuscheltier-Esel Punky (eigentlich gehört er Jan), mein Nackenkissen (eigentlich gehört es Jan) sowie Post von Jan & Steffi und Anna & Kimbo. Steffi hat glaube ich zum ersten Mal in ihrem Leben eine Mütze genäht. Sie hat nämlich zu Weihnachten eine Nähmaschine geschenkt bekommen. Der Mütze sieht man überhaupt nicht an, dass Steffi das nicht schon 100 Mal gemacht hat; Die ist echt toll geworden und fühlt sich sogar auf meinem derzeitigen Stoppelkopf gut an! Anna hat mir eine sehr süße Karte geschrieben und mir einige Seiten für Stadt, Land, Vollpfosten sowie für Freunde versenken geschickt. Das können wir dann via Videotelefonat spielen (Wenn denn das Internet in Ashausen funktioniert).
Perücke
Als es draußen bereits dunkel wurde, kam ich auf die Idee, meine Perücke aus dem Schrank zu holen, die ich mir bereits Anfang Oktober zugelegt hatte. Ich weiß gar nicht, ob ich das schonmal erwähnt habe?! Falls nicht: Ich habe mir bei MedicHair in Harburg eine Perücke in meiner Naturhaarfarbe gekauft. Sie besteht jeweils zur Hälfte aus Echthaar und aus hochwertigem Synthetik-Haar. Kostenpunkt: 1275€, man gönnt sich ja sonst nix. Die DKV und die Beihilfe haben insgesamt 750€ übernommen, die restlichen 525€ habe ich aus eigener Tasche bezahlt. Natürlich gibt es Synthetikperücken für 750€ oder weniger, aber die sehen dann auch nach Perücke aus. Bevor ich mich wie ein Transvestit fühle, trage ich lieber gar keine Haare bzw. investiere gerne etwas Geld in einen unauffälligen Haarersatz, mit dem ich mich wohl fühle. Tatsächlich geht es mir vor allem darum, auf der Straße „normal“ bzw. gesund aussehen zu können, wenn mir danach ist.
Ich mochte es noch nie, wenn ich eine Mütze trug und keine Haare mehr zu sehen waren. Das sah dann immer so aus als wäre ich krank. Nun bin ich tatsächlich krank und habe eine Stoppelglatze. Da möchte ich erst Recht nicht noch elender aussehen als nötig oder mitleidige Blicke auf mich ziehen.
Perückenhighlights
Ich holte also die Perücke aus dem Schrank und setzte sie auf. Dank meiner Haarlosigkeit saß sie sofort perfekt und haftete mit dem Silikonrand an meinem Hinterkopf. Da ich keine Luft auf Haarspangen hatte, setzte ich meine Mütze auf, die alle Haare dort hielt, wo sie hingehörten. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass natürlich auch die Verarbeitung eine große Rolle beim Preis gespielt hat. Meine Perücke hat keine einzelnen kratzigen Trassen, wie man sie von Faschingsperücken kennt, sondern besteht aus einem größeren Stück Stoff, der angenehm auf der Haut liegt. Bei Gelegenheit mache ich mal ein Foto davon. Jedenfalls kratze es überhaupt nicht und die Mütze saß auch bequemer als direkt auf meinen Stoppeln. Ich setzte mich aufs Bett und las Nachrichten als die Schwester hereinkam, um meine Leine zu wechseln und meine Werte zu messen. Sie kannte mich bisher nur mit der Kurzhaarfrisur und hatte mich früher am Tag zum ersten Mal ohne Haare gesehen. Nun sah sie mich mit der dritten Variante und meinte, dass ihr niemals aufgefallen wäre, dass es sich um eine Perücke handelt. Sie habe bisher immer nur ganz schreckliche Perücken bei den Patienten gesehen. „Oh, wir haben sogar noch ein Sammelsurium von seltsamen Perücken-Broschüren irgendwo liegen. Ich guck mal eben.“ Als sie mit einem Stapel Prospekte wiederkam, musste sie schon total lachen. Gemeinsam blätterten wir die Seiten durch und diskutierten darüber, welches Layout, welche Fotos und welche Perücken am schlimmsten aussahen. Ich werd hier gleich mal ein paar Highlights anhängen.
Achja
Als sie wieder an die Arbeit musste, fing ich an, diesen Tagebucheintrag zu schreiben. Jetzt ist es kurz vor Mitternacht und ich sollte mal langsam zum Ende kommen. Allerdings fällt mir gerade auf, dass ich gar nicht erwähnt habe, dass die Oberärztin heute zur Visite bei mir war. Meine Leukozyten haben nochmal einen großen Sprung gemacht und liegen jetzt bei 13,irgendwas. Auch meine Thrombozyten haben ganz von alleine angefangen sich zu vermehren! Mein Entzündungswert sinkt weiter ab (was gut ist) und ab morgen starten wir langsam wieder mit dem Schlucken von Medikamenten. Mein Medizinturm verliert dann nach und nach seine Daseinsberechtigung und ich werde peu à peu von dem Morphin entwöhnt. Sobald ich alle Tabletten schlucken und wieder richtig essen und trinken kann, darf ich das Krankenhaus verlassen!!! Die Ärztin meint, wenn alles gut geht, kann ich am 22. schon wieder nach Hause! Das wäre sooooo schön. Allerdings bin ich noch ein ganzes Stück davon entfernt. Auch wenn es simpel klingt, wenn euch den ganzen Tag speiübel ist, scheint es fast unmöglich, überhaupt etwas zu sich zu nehmen, geschweige denn hochkalorische Mahlzeiten und an die 30 Tabletten. Die Übelkeit könnte auch schon eine Spender-gegen-Empfänger-Reaktion sein, aber das hoffe ich natürlich nicht. Mein Körper verbraucht gerade so viel Energie wie ein Marathonläufer. Passt irgendwie zu der gesamten Krankheit. Es ist ein Marathon, kein Sprint. Schritt für Schritt werde ich mein Bestes geben, um das Krankenhaus möglichst schnell und gesund hinter mir zu lassen.
Unglaublich schön zu lesen, dass es schrittweise bergauf geht!
Diese Perücken! Die Sprüche! Die Kissenschlacht! Das ist alles so verstörend! 😀
Liebe Nele,
Wie gut, dass wir gleich im Herbst deine Perücke gekauft haben. Die in den Prospekten erinnern mich sehr an Haarmode der 70/80 Jahre. Es freut mich riesig, dich wieder auf dem Weg der Genesung zu wissen. Ich bin dem Spender so unendlich dankbar, dass er dir eine 2. Chance zu leben gegeben hat. Und ich bin mir sicher, dass du stark genug bist sie zu nutzen 😍😀. Die Aussicht dich bald wieder in den Arm zu nehmen und von Angesicht zu Angesicht mit dir zu sprechen macht mich sehr glücklich. Weiter so!!🏃♀️👍
Toll Nele ☺️💞 Ich freu mich so dass es dir etwas besser geht! Und schön, dass die Mütze dir gefällt!
Verstörend finde ich auch, dass man jetzt Periodenparties macht…hängt man dafür Tampons und Binden als Deko auf?
Hallo Nele, es ist wirklich schön zu lesen wie es bergauf geht ☺️. Bald hast du es geschafft. Deine Perücke ist übrigens echt Super. Viel Glück weiterhin 🍀